Es trifft immer die Besten

Vor den Vätern sterben die Söhne: „Empörung“, der neue Roman von Philip Roth, liefert die dunkle Vorgeschichte von 1968 nach, die schlimmen Folgen eines Aufbegehrens inklusive

VON STEPHAN WACKWITZ

Die amerikanische Coming-of-Age-Novel ist eine entfernte Cousine des deutschen Bildungsromans und „Empörung“ von Philip Roth ist eine besonders schöne, aber auch sehr traurige und sogar ziemlich unheimliche Coming-of-Age-Novel – eine Art tragisch-schauriges Gegenstück zu „Portnoys Beschwerden“. Der alte Schriftsteller gibt eine späte und skeptische Antwort auf die optimistisch-turbulente Komödie, durch die der junge Roth 1969 berühmt wurde.

Im düsteren Stil der Gothic Novel gehalten sind schon die ausführlichen Beschreibungen des Handwerks, das der Vater des Helden ausübt: Marcus Messner ist der achtzehnjährige Sohn eines koscheren Metzgers in Newark, der Nachbarstadt New Yorks in New Jersey. Der klassische Schauplatz eines Horrorromans sind die efeubewachsenen Mauern des Winesburg College in Ohio (die halb tatsächlich existierende, halb fiktionale Stadt Winesburg, Ohio, ist seit Sherwood Andersons Novellenzyklus so etwas wie das Seldwyla des amerikanischen Kleinbürgertums). Schaurig sind die Details der Verletzungen, die der Erzähler im Koreakrieg erleidet. Krieg, und zwar ein besonders blutiger, sinnloser und ergebnisloser Krieg, der Krieg gegen die unheimlichen und dämonischen Diktatoren Mao Tse-tung und Kim Il Sung bildet die drohende historische Kulisse der Handlung und den perspektivischen Fluchtpunkt der erzählten Katastrophen.

Unheimlich sind die paranoiden und phobischen Persönlichkeitsveränderungen, an denen Messner senior seit seinem fünfzigsten Lebensjahr leidet. Sie führen dazu, dass seine Frau das Undenkbare erwägt, eine Scheidung, und dass sein Sohn fluchtartig in ein entferntes College wechselt. Und entschieden gothic ist auch die Erzählerperspektive des Romans. Marcus Messner nämlich berichtet (übrigens wie die Erzählerin von Alice Sebolds „The lovely Bones“, des Bestsellers von 2002) aus dem Jenseits. Der Erzähler von „Empörung“ ist ein Geist. Messner ist, wie sich in seinem Monolog herausstellt, an seinen Kriegsverletzungen in Korea 1952 in Wirklichkeit gestorben. Auch dass sich nur schrittweise enthüllt, dass wir der Erzählung eines Untoten folgen, ist nach den Traditionen des Schauergenres regelgerecht. Erzählt wird die Vorgeschichte seines Todes, die Ereignisse, „bevor Marcus, wäre er fähig gewesen, den Gottesdienst zu ertragen und den Mund zu halten, sehr wahrscheinlich als Jahresbester sein Examen am Winesburger College gemacht hätte und auf diese Weise wohl erst später hätte erfahren müssen, was sein ungebildeter Vater ihm von Anfang an hatte beibringen wollen: auf welch furchtbare, unbegreifliche Weise die banalsten, zufälligsten und sogar komischsten Entscheidungen die unverhältnismäßigsten Folgen haben können“.

Wie es sich für Katastrophen gehört, sind ihre Opfer auch in dieser Erzählung schön, jung, begabt und berechtigen zu den größten Hoffnungen. Die Liebesgeschichte zwischen dem strebsamen, anständigen, klugen und gut aussehenden Marcus aus Newark und Olivia, einer verführerischen, hochintelligenten und psychisch vollkommen verkorksten Arzttochter sind das spannende psychodynamische Zentrum der Handlung und ihr erzähltechnisches Uhrwerk. („They fuck you up, your mum and dad“, dieses Philip-Larkin-Gedicht kann einem bei dieser Olivia einfallen.)

Was mit Olivia nicht stimmt, bleibt im Halbdunkel (Frauen, und besonders erzählte Frauen, brauchen ein Geheimnis). Von Marcus wissen wir so gut wie alles. Dagegen wird nicht recht deutlich, wieso Olivias Narbe an ihrem Handgelenk das Andenken an einen Selbstmordversuch ist und warum sie mit ihren kaum 19 Jahren bereits auf Aufenthalte in einer Säuferheilanstalt zurückblicken kann. Auch ob sie am Schluss wirklich schwanger ist und von wem, und ob sie wirklich die Blowjob Queen des College ist, bleibt unklar und wird uns nur von denkbar unzuverlässigen Erzählern berichtet. Wie bei anderen weiblichen Figuren im Roth-Universum ist Olivias geheimnisvolle psychische Gestörtheit ein Ingrediens ihrer erotischen Anziehungskraft, der Grund einer traumwandlerischen Vertrautheit mit unausgesprochenen Männerwünschen. Die schönsten und seltsamsten Passagen dieses Romans beschreiben erotische Grenzüberschreitungen.

„Empörung“, glaube ich, ist in Wirklichkeit ein Buch über die späten Sechzigerjahre. Nicht nur weil ein Collegeaufstand, ein aus dem Ruder gelaufener Ulk von der Art der „Schwabinger Krawalle“, den Höhepunkt und Kehraus der Handlung bildet, der „Weiße Höschenklau“ von Winesburg, in dem sich die Turbulenzen von 1968 ankündigen. Nicht nur weil sexuelle Frustration und Erlösung den Treibstoff des Erzählens bildet. Sondern auch weil in den Gesprächen des (eigentlich sympathischen, korrekten und sogar einfühlsamen) College-Deans mit Marcus über dessen Verfehlungen sehr genau die Innenwelt damaliger Männer porträtiert wird, ihre Obsession mit Jungfräulichkeit, ihr Ethos des Frischfrommfröhlichfreiseins, ihr hysterisches Hochhalten der Verantwortung, der Tradition, der Kult sinnloser Tapferkeit und Leidensbereitschaft. Das eigentümlich Betäubte dieser Respektspersonen und dann wieder ihr hysterisches Entzündetsein. Ich habe solche Männer noch erlebt als Respektspersonen, heute gibt es sie nicht mehr.

Das stille und unheimliche Wahnsinnigwerden von Marcus’ Vater ist das symbolische Bild einer Männergeneration, die 1968 abtreten wird. Und der Titel des Romans stammt aus der chinesischen Nationalhymne, die Marcus – geisterhaft vorgreifend auf den maoistischen Jugendwahn der frühen Siebzigerjahre – innerlich singt, während er voll Grimm und unausdrückbarer Aufsässigkeit den obligatorischen Gottesdienst absitzt oder den Predigten des Deans beiwohnt (dem er anschließend, in einer nicht beherrschbaren körperlichen Reaktion, auf den Teppich kotzt).

„Portnoys Beschwerden“ war eine komische, zukunftsfrohe, optimistische Befreiung. „Empörung“ liefert die dunkle Vorgeschichte von 1968 nach. Erst jetzt, so lange nach ihrem endgültigen Sieg, tritt die Nachtseite der weltweiten „Großen Kleinbürgerlichen Kulturrevolution“ ans Licht, zum Beispiel auch in dieser amerikanischen Tragödie.

Philip Roth: „Empörung“. Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz. Hanser Verlag, München 2009, 208 Seiten, 17,90 Euro