Die sprachabgewandte Seite der Welt

Forscher sind komische Vögel: Josef Ostendorf brilliert in Anna Viebrocks Kölner Theaterabend „Der letzte Riesenalk“

Es ist ja Darwinjahr, und das Kölner Schauspiel hat passenderweise eine Produktion auf dem Spielplan, die sich ziemlich gut in das Jubiläum fügt. „Der letzte Riesenalk“ von Anna Viebrock und Malte Ubenauf ist allerdings kein planes Diskursstück über die Aktualität der Evolutionslehre. Schließlich gehen Anna Viebrocks Regiearbeiten stark vom Raum, von Atmosphären und der Behandlung der Zeit aus. Lange Jahre hat sie im Team mit Christoph Marthaler gearbeitet und war für dessen Bühnen zuständig. Gleichwohl hat sie mit Malte Ubenauf einen Dramaturgen zum Arbeitspartner, der dann doch für die entsprechende theoretische Unterfütterung ihrer gemeinsamen Projekte sorgt (Kodramaturgie: Götz Leineweber).

Der titelgebende Riesenalk ist eine im 19. Jahrhundert ausgestorbene gansähnliche Vogelart, die aber, die Abbildung im Programmheft belegt es, eher wie ein großer Pinguin mit spitz-krummem Schnabel aussieht. Es geht also, kann man ruhig sagen, um einen komischen Vogel. Umso mehr, als der protagonistische Schauspieler des Abends, Josef Ostendorf, teilweise die Identität eines Riesenalks angenommen zu haben scheint.

Der Zuschauer sieht Ostendorf im ersten und letzten Teil der knapp zweistündigen Inszenierung in einem Bühnenraum, der eine Mischung darstellt aus der Wohnung eines Forschers, die aus drei nebeneinander angeordneten Zimmern besteht, und einem großen Betontiergehege, wie man es aus dem Zoo kennt. Auf der zum Publikum zugewandten oberen Außenwand trägt das Gehege die Aufschrift „Der letzte Riesenalk, 1844“. Ostendorf spielt dieses Forschertier namens Ludwig.

Einmal tippt er Sätze aus seiner Schrift „Urformen der Angst“ in seinen Rechner. Das Programmheft listet als einen der Textgeber des Abends Marcel Beyer. Beyer hat in seinem letzten Roman „Kaltenburg“ ebenfalls einen Forscher beschrieben, der eine Schrift „Urformen der Angst“ verfasst hat. Ludwig ist also, wie Kaltenburg, Zoologe, dessen Forschungen ihn zu Rückschlüssen über das Verhalten der Menschen führen. Ganz wie Darwin, der seine Erkenntnisse aus dem Reich der Tiere erst später auf die Entwicklung des Menschen übertrug.

Viebrocks und Ubenaufs Abend ist eine Zustandsbeschreibung. An der Oberfläche geht es um den Zustand von Ludwig als isoliertem, offenbar vereinsamtem Forscher. Dahinter liegt die mehr bild- und klangpoetische Beschreibung des Verhältnisses zwischen Sprache und (wissenschaftlicher) Kategorisierung der Dingwelt auf der einen und Angst und Ohnmacht auf der anderen Seite – beides Faktoren, die sich der Vernunft entziehen. Wenn Ludwig zum ersten Mal von einem Journalisten (Thomas Wittmann) danach gefragt wird, wie man es schaffe, die Angst zu ertragen, dann ersetzt der Komponist des Abends, Ernst Surberg, Ludwigs Sprache durch eine gurgelige Geräuschcollage. Überhaupt gehört diesem teilweise elektronisch verfremdeten, mal bohrenden, mal fräsenden und schneidenden Sound, der zwischendurch von vogelartigem Gekreische und Gezwitscher interpunktiert wird, viel vom ersten Teil der Inszenierung. Hier hat man es mit einer Schauspiel- und Klanginstallation zu tun, die uns hinter die Welt der Sprache führt.

Die ordnende Welt der Sprache wird im zweiten Teil ad absurdum geführt, wenn man Zeuge eines endlos scheinenden Forschungsberichts in Sachen Vorkommen und Musealisierung des Riesenalks wird. Gleichzeitig fahren aus dem Bühnenboden zahllose Schaustelen empor, auf denen aber die zu drapierenden Ausstellungsstücke fehlen. Das alles ist mit Liebe fürs Detail subtil gemacht. Ganz im Stile eines Dioramas, eines malerisch-lichttechnischen Bildapparats aus dem 19. Jahrhundert also.

Aber einwenden lässt sich, dass es dem Abend an der entscheidenden Überzeichnung fehlt, die die Dringlichkeit der Recherche in die sprachabgewandte Seite der Welt deutlicher spürbar werden ließe. Das bisweilen rührende, rotwangige, aus Verlegenheit Fingernägel-knabbernde Spiel des massigen Ostendorf – der öfter den mal zartbesaiteten, mal drastischen, aber fast immer einsamen Sonderling gibt – trägt dazu bei. Auch ihm hätte die Regie mehr schauspielerische Ausschweifungen zugestehen können. In Momenten panischer Nervosität verfällt er in ein stummes, hektisches Hin-und-her-Geruckel seines Oberkörpers. Dann tut sich der Abgrund des Absurden, an dem dieser Abend sich durchaus bewundernswert entlangbewegt, mächtig auf.

ALEXANDER HAAS