jazzkolumne
: Frisch vernetzt ist alles möglich

Die junge Londoner Jazzszene spielt nicht nur spannende Musik, sondern organisiert auch gleich noch die eigene Infrastruktur

Am Freitag, den 13., ist wichtige Post für ihn gekommen. Stolz hält Oliver Weindling den Brief von der Royal Academy of Music in Händen: Kommenden Monat wird er für seine Verdienste um die junge Londoner Jazzszene ausgezeichnet werden. Seit vier Jahren leitet Weindling den Jazzclub Vortex im Londoner Bezirk Dalston, um die Ecke gibt es Shops mit Billigklamotten und Imbissrestaurants mit karibischen, türkischen oder nordafrikanischen Fastfood. Die Leute, die hier wohnen, kommen normalerweise nicht in seinen Laden, doch Weindling hat die Gegend irgendwie liebgewonnen. Auf dem Vortex-Vorplatz stehen mehrere Container, in denen kleine Geldtransfergeschäfte abgewickelt werden, nur einer passt nicht wirklich hierhin – der Blechkasten mit Weindlings CD-Label Babel Records ist meist nicht besetzt, auf einem Zettel am Fenster steht, dass man nähere Informationen im Vortex nebenan erhalten würde.

Zwei der wichtigsten CDs der aktuellen britischen Improvisationsszene sind bei Babel Records (www.babellabel.co.uk) jüngst erschienen: Outhouse und Fraud, beide Bands gehören zum Loop Collective und waren die Stars des viertägigen Loop-Festivals, das Mitte Februar im Vortex stattfand. Bei Fraud sind der Saxofonist James Allsopp und der Schlagzeuger Tim Giles maßgebend. Ihre Kompositionen klingen nach einer wilden Melange, hybrid und selbstbewusst, passend zu einer Band, die sich nicht schert, ob sie nun als Avant-Rock, Post-Jazz oder Freestyle-Chamber-Blues kategorisiert wird. Ihrer Haltung nach, offen und kollektivistisch, repräsentieren sie perfekt die Aufbruchsstimmung der jungen Londoner Jazzszene.

Im Loop Collective haben sich momentan 14 Männer und eine Frau organisiert, die Mitte bis Ende 20 sind und sich zu zwei grundlegenden Prinzipien bekennen: eigene Kompositionen und gegenseitige Hilfe bei der Initialisierung von infrastrukturellen Maßnahmen. Im Oxford, einer Kneipe im Stadtteil Kentish Town, organisieren sie seit drei Jahren jeden Montag einen Konzertabend, beim kollektiveigenen CD-Label Loop Records sind bisher 7 reguläre Alben und einige kurze Konzertausschnitte erschienen, auf der Website des Kollektivs kann man das Loop-Radio hören – alles Initiativen, um ein Publikum zu finden.

Der Saxofonist Robin Fincker, der zusammen mit dem Saxofonisten Tom Challenger die Front-Line des Acoustic-Jazz-Quartetts Outhouse bildet, ist Gründungsmitglied und Sprecher des Loop Collective. Er zieht eine erfolgreiche Bilanz der ersten vier Jahre und findet es stimmig, dass sich die verschiedenen Bands, die die Loop-Mitglieder untereinander bilden, in einem breiten stilistischen Rahmen bewegen. Man fühle sich nicht festgelegt, von Electric über Esoteric bis Improv scheint hier wie beim Loop Festival im Vortex mit insgesamt 17 sehr unterschiedlich ausgerichteten Konzerten treffend vorgeführt wurde, alles möglich.

Debatten führen die jungen Kollektivisten heute über die zukünftigen Wege der Vernetzung und die Frage, wie das Verhältnis von notierter und frei improvisierter Musik gewichtet werden soll. Vernetzung ist das Stichwort angesichts prekärer Bedingungen für die schöpferisch tätigen Menschen. Jobs machen die Musiker je nach Marktlage, doch wenn es um die eigene Musik geht, ist auf herkömmliche Strukturen kaum Verlass. Das bestätigt selbst der Herausgeber der einflussreichen Jazz-Zeitschrift Jazzwise, Jon Newey, der dem Loop-Kollektiv überwältigende Energie und Ideenvielfalt bescheinigt. Wer auf den Anruf eines Agenten wartet, habe heute keine Chance mehr. Dass eine junge Vereinigung wie Loop Verbündete braucht, liegt auf der Hand, da kann die Unterstützung vonseiten der Vortex-Mitarbeiter und der BBC-Jazzredaktion, die regelmäßig Konzerte der jungen Londoner Musiker mitschneidet und sendet, gar nicht hoch genug bewertet werden.

Bislang gibt es Tour-Support nur für nationale Konzertreisen, berichtet Joe Paice von Jazz Services, einer Organisation, die unter anderem auch für die Vergabe staatlicher Hilfen an die Jazz-Community zuständig ist. Der zweimonatlich erscheinende Szeneführer Jazz UK verzeichnet an die 2.500 Konzerte, Paice schwärmt auch von spannenden Szenen in Bristol, Leeds und Manchester, doch längst ist der Blick der jungen Musiker nach Europa gerichtet. Man ist informiert über die Szenen in den Metropolen auf dem Kontinent und überlegt, wie man dort verstärkt aktiv werden könnte. Die Hoffnung ruht auch darauf, dass internationale Tour-Unterstützung nach Schweizer oder skandinavischem Vorbild nicht mehr lange auf sich warten lässt. Die Szene ist bereit. CHRISTIAN BROECKING