20 Jahre Caracazo: Wenn Windpocken Leben retten

Vor 20 Jahren brach in Venezuela der "Caracazo" los und endete in einem Massaker. Heute feiern Chávez´Anhänger den Aufstand als Geburtsstunde ihrer "bolivarischen Bewegung".

Der Linksruck in Lateinamerika ist ohne die "Caracazo"-Unruhen kaum zu erklären. Bild: dpa

Hugo Chávez hatte Glück am 28. Februar 1989: Er lag mit Windpocken im Bett, als seine Kameraden zur Aufstandsbekämpfung ausrückten. Nach Anbruch der Dunkelheit brach in den Armenvierteln von Caracas die Hölle los. Soldaten erschossen Plünderer und verscharrten sie heimlich in Massengräbern, Maschinengewehrsalven durchlöcherten die Fassaden der Wohnburgen, die politische Polizei folterte mutmaßliche Aufrührer. Menschenrechtler können später 396 Opfer des Massakers dokumentieren, das als "El Caracazo" in die venezolanische Geschichte eingeht. Zeugen der Ereignisse sprechen von mehreren tausend Toten. Die genaue Opferzahl wurde nie untersucht.

Dem Massaker voraus ging eine spontane Volkserhebung, wie sie der Ölstaat Venezuela noch nicht gesehen hatte. Die Regierung des Sozialdemokraten Carlos Andrés Pérez hatte mit dem IWF eines der berüchtigten "Anpassungspakete" geschnürt, die in den 80er- und 90er-Jahren in vielen südlichen Ländern zu "IWF-Aufständen" geführt haben. Das in Folge des Ölpreisverfalls überschuldete Venezuela brauchte US-Dollars, der IWF verordnete eine neoliberale Radikalkur: Zum 1. März 1989 sollte Schluss sein mit subventionierten Preisen für lebenswichtige Güter. Die Lebensmittel verschwanden aus den Regalen, weil die Händler auf die kommende Kostenexplosion setzten. In der Bevölkerung brodelte es.

Als sich am Morgen des 27. Februar die Buspreise verdoppelt hatten, setzten Pendler die Busse in Brand und begannen zu plündern. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht von den gehorteten Waren im ganzen Land. Allein in Caracas räumte die aufgebrachte Menge rund 2.000 Geschäfte leer. "Es war wie eine Rache", erinnert sich ein Bewohner des Armenviertels San Agustín. "Die Leute kamen wie die Ameisen die Berge herunter."

Damals interessierte sich die Weltöffentlichkeit wenig für das folgende Massaker. Berichte gab es vornehmlich in der Wirtschaftspresse: Dort waren die Ereignisse in Venezuela ein Beispiel dafür, was schiefgehen kann, wenn der IWF ein überschuldetes Land auf den marktliberalen Strukturanpassungskurs des "Washington Consensus" schickt. "So bricht ein Entwicklungsmodell zusammen", lautete die Überschrift im Handelsblatt. Von Toten war nicht die Rede.

In Venezuela gilt der Caracazo mittlerweile als Zeitenwende. In seiner Folge entstanden überall Menschenrechtsgruppen und Selbsthilfeorganisationen, die in Caracas kurzeitig sogar eine "Generalversammlung der Barrios" bildeten. "Wir wollen nicht Regierung sein, wir wollen regieren", lautete der Slogan.

Der niedergeschlagene Aufstand, in Venezuela gerne auch "27F" genannt, war der erste einer Reihe von Rebellionen, die den basisdemokratischen Impetus des lateinamerikanischen Linksrucks definierten. Auch in Ecuador, Bolivien oder Argentinien attackierten die Aufständischen im Namen der Selbstverwaltung die repräsentative Demokratie, die sich in der Krise doch eher als Instrument einer korrupten Politiker- und Wirtschaftselite erwies.

In Venezuela führte ein 37-jähriger Fallschirmspringer namens Hugo Chávez am 4. Februar 1992 eine gescheiterte Militärerhebung gegen die Regierung Andrés Pérez an. Der junge "Comandante Chávez" wurde zum Volkshelden, weil man in ihm den Rächer für das Massaker sah. Die fragmentierten Community-Organisationen fanden in Chávez die einzige realistische politische Perspektive. Das erkläre den "zwar selbst verwaltenden, aber paradoxerweise sehr am Führerprinzip orientierten Geist der bolivarischen Bewegung", sagt Ronald Denis, damals Studentenführer, heute am linken Rand der Chávez-Unterstützer.

Chávez müsse sich bis heute immer wieder als identisch mit der Bewegung erklären, gerade eben weil Repräsentation dem Geist des "Caracazo" widerspräche. Ein Umstand, der zu bisweilen bizarrer Rhetorik führt. "Ich bin ein Soldat des Volkes", rief der venezolanische Präsident nach dem gewonnenen Referendum am 15. Februar seinen Anhängern zu. Dass die Metapher verfängt bei einer Bewegung, die ihre Wurzeln in einem von der Armee niedergeschlagenen Aufstand hat, ist auch so ein Paradoxon.

Wenn Venezuela am Samstag den 20. Jahrestag begeht, werden sowohl die Chavisten als auch ihre rechten und linken Kritiker den "Caracazo" für sich reklamieren. Die Linken pflegen am 27. Februar auf die Straße zu gehen, um im Namen der Rebellion gegen Korruption und für die Macht der Räte zu demonstrieren. Die rechte Opposition wird bemängeln, dass auch zwei Jahrzehnte danach kein Militär oder Politiker für das Massaker belangt worden ist. Und Chávez wird sich zum Sohn des Volksaufstands erklären: Es sei der "Caracazo" gewesen, "der mich gezeugt hat", hatte er zum zehnten Jahrstag seines Regierungsantritts in einer Kolumne geschrieben.

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