Das Zukunftsorchester

Berliner Ensembles (Teil 1): Die Berliner Philharmoniker sind nicht nur musikalisch brillant, sondern auch für neue Technologien aufgeschlossen. Nun übertragen sie ihre Konzerte im Internet

VON TIM CASPAR BOEHME

Herausragend waren sie schon immer: Die Berliner Philharmoniker sind eines der weltbesten Orchester. Ihre jährlich 90 Konzerte in der Philharmonie sind ebenso wie die 40 Auslandskonzerte ausverkauft. Eigentlich könnten die Philharmoniker mit sich zufrieden sein. Doch auch in früheren Jahren wussten sie ihren Erfolg durch neue Technologien zu verbessern und sehen keinen Grund, von dieser Strategie abzuweichen.

Wenn zum Beispiel der Name Herbert von Karajan zwanzig Jahre nach dessen Tod immer noch in engem Zusammenhang mit dem Orchester gesehen wird, hat dies neben seiner musikalischen Leistung auch damit zu tun, dass der Dirigent wie kein anderer die Vermarktungsmöglichkeiten durch das Medium Schallplatte nutzte und als glühender Befürworter schon früh die CD-Technologie nutzte. Unter ihrem aktuellen Leiter Sir Simon Rattle sind die Berliner Philharmoniker nun seit Anfang des Jahres auf dem besten Weg, zum Internetorchester zu werden.

Musik und Internet werden als Paar zwar eher mit Gratis-Downloads oder Qualitätsverfall im MP3-Format in Verbindung gebracht, doch die Berliner Philharmoniker haben sich für den Spagat zwischen musikalischem Anspruch und universeller Verfügbarkeit entschieden. Sie übertragen seit dem 6. Januar ihre Konzerte als Livestream im Netz, Kostenpunkt pro Auftritt: 10 Euro. Die Idee zur „Digital Concert Hall“ kam nicht von Rattle, sondern vom Solocellisten Olaf Maninger, zugleich Medienvorstand des Orchesters. Für ihn war das Projekt nur folgerichtig: „Die Sitzplätze sind begrenzt. Die Sendeplätze für klassische Musik sind ebenfalls begrenzt. Wenn man expandieren will, bleibt einem nur das Internet oder ein eigener Fernsehsender, und da erschien uns das Internet die spannendere Möglichkeit.“

Wie einst bei der CD-Technologie betreten die Berliner Philharmoniker Neuland: „Dass ein Sinfonieorchester seine gesamte Saison im Internet überträgt, gibt es sonst nirgendwo.“ Nicht jedem leuchtet das Konzept ein, wie Maninger einräumt: „Die Zielgruppe ist sehr klein, weil die Schnittmenge zwischen Internetnutzern und Klassikhörern nicht sonderlich groß ist.“ Klassikhörer legen zudem großen Wert auf Soundqualität, so dass man sie von den Vorzügen des Internetauftritts erst noch überzeugen muss.

Die Berliner Philharmoniker setzen auf die Authentizität des Live-Erlebnisses, so Marketingleiter Tobias Möller: „Dieses Gefühl, dass ich in den Rechner schaue, und gleichzeitig passiert am anderen Ende der Welt in der Berliner Philharmonie genau das, was ich sehe, hat einen speziellen Reiz für die Zuschauer.“ Darum wolle man die Übertragung so direkt wie möglich gestalten. Den Fans in Japan bietet sich dadurch ein Problem: Zum üblichen Übertragungsbeginn von 20 Uhr ist es in Tokio 4 Uhr morgens. Sämtliche Konzerte lassen sich daher im Archiv als Stream abrufen, Downloads oder DVD-Produktionen sind dagegen nicht vorgesehen.

Dass die Aufzeichnungsgeräte, deren Anschaffung von der Deutschen Bank mit einem siebenstelligen Betrag ermöglicht wurde, einen weit höheren Qualitätsstandard haben, als das Internet gegenwärtig verkraften kann, und die Daten komprimiert auf dem heimischen Rechner ankommen, mag einem als Ironie erscheinen. Maninger glaubt indes an den Vertriebsweg Internet und hofft auf die Fortschritte der Breitbandtechnologie. Und auch wenn sich das Online-Angebot bis auf Weiteres nicht zum Geldverdienen anbietet, ist der digitale Konzertsaal in seinen Augen eindeutig ein Projekt für die Zukunft.

Das Internet ist nicht der einzige Weg an die Öffentlichkeit. Analoge Musikvermittlung findet unter der Überschrift „Zukunft@BPhil“ statt. Zu Beginn seiner Amtszeit im Jahr 2002 von Rattle angeregt, gibt es mittlerweile eine ganze Abteilung, die sich um Bildungsangebote auch außerhalb des Konzertsaals kümmert. Im Mittelpunkt stehen dabei die kreativen Projekte, in denen Musiker des Orchesters mit Schülern an verschiedenen Berliner Schulen zusammenarbeiten, so Leiterin Catherine Milliken. Das Engagement beschränkt sich nicht auf Bildungseinrichtungen. In der JVA Charlottenburg wurde am 11. Februar ein Stück auf der Grundlage von Robert Schumanns Oratorium „Das Paradies und die Peri“ aufgeführt, bei dem die Insassen Ideen zum Thema Utopien entwickelt hatten.

Zum sozialen Engagement der Berliner Philharmoniker, im Jahr 2007 Unicef-Botschafter, kommt ihre starke Selbstorganisation. „Seit den vergangenen hundert Jahren kümmert sich das Orchester um alles selbst“, so Maninger. Unter der Leitung Rattles wurden die Berliner Philharmoniker zur Stiftung öffentlichen Rechts und setzen damit ihre Tradition der Selbstverwaltung fort. Von den 128 Planstellen erfüllen rund zwanzig Musiker Aufgaben in verschiedenen Gremien, es gibt einen Stiftungsvorstand, auch ihre Diensteinteilungen übernehmen die Musiker selbst. Diese Unabhängigkeit bei konstanten musikalischen Spitzenleistungen hat allerdings einen Preis: „Ich arbeite permanent von morgens bis abends. Entweder mache ich Musik oder ich kümmere mich um das Orchester und habe dabei meistens noch meine Familie mit auf dem Schoß. Wenn man bei uns arbeitet und Verantwortung übernimmt, muss man das mit Haut und Haaren tun.“