Ganz beiläufig großartig

Zwischen Knipser-Bildern aus der Drogerie und schwergewichtigen Prachtbänden, zwischen dem alltäglichen Blick in die leere Backröhre und teuren Dye Transfer Prints: die große Retrospektive „William Eggleston. Democratic Camera. Fotografie and Video, 1961–2008“ im Münchner Haus der Kunst

Egglestons Weltruhm begann in München, in Graz beim „Steirischen Herbst“ und in den Berliner Workshops von Michael Schmidt

VON IRA MAZZONI

Eine Vitrine. Darin in der linken Ecke ein akkurat geschichteter Stapel kleinformatiger Farbfotos. Der Auswurf eines Automaten. Die Lieferung einer Drogerie. Das Original einer Meister-Serie. Zumindest ein Teil davon. Kalkulierte Schnappschüsse aus den 1970er–Jahren von William Eggleston, dem „Erfinder der Farbfotografie“. Was so nicht richtig ist. Subtraktive Verfahren gab es seit ca. 1870, Kodachromefilme wurden seit 1935 produziert, Kodacolor-Negative waren seit 1941 in Gebrauch und wurden auch von Künstlerfotografen genutzt. Aber Eggleston machte nicht nur das inzwischen massenhaft für den Amateurmarkt produzierte, „vulgäre“ Material, sondern auch dessen Allerweltsästhetik zur Farbkunst.

Eine andere Vitrine: Darin aufgeschlagen ein Querfolio. Die Deckel nobel marmoriert. Die Ecken und der Bund aus feinstem Leder. Die Seiten aus schwerem Büttenpapier. Darauf aufgezogen 100 technisch raffinierte Farbabzüge aus der Serie „Election Eve“. Ähnlich sahen die ersten mit Schwarz-Weiß-Fotografien illustrierten Bücher des 19. Jahrhunderts aus. Für die Fünfer-Auflage der zweibändigen Ausgabe von „Election Eve“ stand Gardners „Photographic Sketch Book of the War“ 1865 Pate, von dem das Museums of Modern Art ein Exemplar besitzt. Der exklusive Report des Amerikanischen Bürgerkriegs als Vorlage für ein Porträt der Heimat des Präsidentschaftskandidaten Jimmy Carters im Jahr 1976! Auf die Idee muss man erst einmal kommen. Ist das ein spezieller Südstaatenhumor? Die Bilder zeigen nichts, was auf die Wahlen hindeuten könnte. Sie zeigen parkähnliche bis öde Landschaften, eine fähnchengeschmückte Tankstelle, verlassene Veranden, ein gelbes Restaurant mit Resopaltischen, abgewetzten Plastikstühlen und plastifiziertem Blumenschmuck an der Wand. Was hat das mit Carter zu tun? Was mit den Wahlen? Was mit dem Bürgerkrieg? Und warum müssen solche Motive des Beiläufigen im Format eines Prachtwerks erscheinen? Es gibt keine tiefere Bedeutung, behauptet der Künstler.

Soll sich doch jeder seinen Reim drauf machen. Eggleston hatte zuvor einen prominenten Auftrag vergeigt. Das Rolling Stone Magazin hatte ihn kurz nach seiner aufsehenerregenden Ausstellung im Museum of Modern Art gebeten, Aufnahmen von der Familie Carter und ihrem Heimatort Plains in Georgia zu machen. Eggleston fuhr los, traf den Wahlkämpfer nicht an und machte dann diese menschenleeren Bilder, die das Magazin nie druckte. Für Eggleston, der sich als Nachkomme von Plantagenbesitzern alles leisten konnte und nie darauf angewiesen war, Geld zu verdienen, kein Verlust. Und sein Freund Coddy Chupp, ebenfalls Fotograf und vermögender Erbe, produzierte aus dem zurückgewiesenen Bildern das opulente Tafelwerk.

Zwischen den „Knipser-Bildern“ aus der Drogerie und dem Prachtband, zwischen dem alltäglichen Blick in die leere Backröhre und den bis dato nur in der Werbung verwendeten teuren Dye Transfer Prints ist das Werk Egglestons angesiedelt. Im Spannungsfeld zwischen dem Billigen und dem Exklusiven, dem Gewöhnlichen und dem Außerordentlichen, dem Marginalen und dem Komponierten entlud sich der Skandal, den die erste monografische Eggleston-Ausstellung im Museum of Modern Art 1976 hervorrief.

„Die meistgehasste Show des Jahres“, resümierte ein Kritiker. „Perfekt banal, perfekt langweilig? Schnappschussschick“, lästerte Hilton Kramer in der New York Times. 76 Motive hatte der Leiter der Fotografieabteilung des MoMA, John Szarkowski, aus einem Wust von Diapositiven ausgewählt. 76 Bilder aus dem Mississippidelta, Egglestons Heimat, im Begleitbuch „Eggleston’s Guide“ präsentiert wie in einem Familienalbum und gerade dadurch verstörend. Heute sind die Bilder Ikonen, Vorbilder für junge Fotografen und Filmer wie Wolfgang Tillmans, Martin Fengel, David Lynch und Sofia Coppola.

Die von Elisabeth Sussman und Sondra Gilman vom Whitney Museum in New York in Zusammenarbeit mit Thomas Weski vom Haus der Kunst in München kuratierte Retrospektive bekam von Kenneth Baker im San Francisco Chronicle das Prädikat: Beste Museumsausstellung des Jahres 2008. Jetzt ist die Superschau „Democratic Camera“, die erste Schwarz-Weiß-Fotografien genauso präsentiert wie großformatige Digitaldrucke jüngster Reisenotizen, im Haus der Kunst zu sehen. Es ist die einzige Station in Europa.

Im inszenierten Rückblick (Auftakt und Abspann sind den vielschichtigen Spiegelbildern aus Tokio und Berlin gewidmet) fällt auf, wie stark, wie suggestiv, wie frisch die Dye Transfer Prints der Siebzigerjahre sind. Keine Spur von Altmeisterlichkeit. Dabei zwingt das inzwischen ungewohnte, technisch bedingte Kleinformat zur konzentrierten Aufmerksamkeit. Da ist es wieder, das sorgsam zwischen Straßenkreuzern geparkte Dreirad, das einst das Cover des MoMA-Guides zierte. Eine menschenleere, sauber gefegte Suburbszenerie, unterschwellig beunruhigend aus der Perspektive eines auf der Straße liegenden Kindes aufgenommen. An der gegenüberliegenden Wand bannt jenes 1973 abgelichtete blutrote Foto aus Greenwood, Mississippi, den Blick, das mittlerweile Ikonenstatus hat, genauso wie das fünf Jahre zuvor gemalte „Who is afraid of red, yellow and blue III“ von Barnett Newman. Egglestons schräger Blick ist in diesem Fall der eines ermatteten oder gelangweilten Bordellbesuchers auf die abenteuerlich verkabelte rote Glühbirne an der Zimmerdecke.

Motivwahl wie Präsentation haben dabei mehr mit dem Abstrakten Expressionismus als mit der Dokumentarfotografie gemein. Ähnlich wie bei Newman am äußersten Rand eine neue Farbe auftaucht, so finden sich bei Eggelston dort die versteckten Hinweise zu einer komplexeren Geschichte. „I hate the obvious“, bekennt Eggleston in einem Filmporträt. So bleiben seine Bilder spannend, weil sie nur jeweils einen Teil ihrer Geschichte preisgeben. Den Rest muss wie bei jeder guten Kunst der Betrachter assoziieren, unterstützt von der Psychologie der vom Fotografen gesteuerten, intensivierten Farben.

„Demokratisch“ hat Eggleston einmal seinen Blick auf Amerikas Alltag genannt. Jedes Bild sei gleich wichtig, nur eben anders. Der Typ, der die Einkaufswagen zusammenschiebt. Der Alte, der mit einem Revolver in der Hand auf der Bettkante gleich neben dem Nachttopf sitzt. Eine Schaufensterpuppe im Negligé. Ein rotes Beil auf dem Gartengrill. Die Ausgabe eines Straßenimbisses. Der fotografierende Wichtigmacher weigert sich entsprechend, aus seinen „Serien“, die wie im Fall von „Los Alamos“ (1965–68, 1972–74) mehr als tausend Bilder umfassen können und doch unvollendet bleiben, eine Auswahl zu treffen. Sowohl die Editionen wie die Ausstellungen sind jeweils Werke von Freunden und Kuratoren.

Auch die jetzige Präsentation bietet einen subjektiven Querschnitt der wichtigsten Zyklen mit autobiografischem Fokus. Vordergründig dominiert also das alltäglich Beiläufige aus der Umgebung von Memphis und Summer. Hintergründig aber die bodenlose (Farb-)Psychologie der Bilder, die den Betrachter auf kriminalistische Fährten lockt. Eggleston ist genauso wenig harmlos wie seine literarischen Nachbarn William Faulkner und Tennessee Williams. Zum Schluss wartet die Ausstellung mit der Neuinszenierung eines frühen Videoexperiments des Bildrevoluzzers auf. Eine unruhige Realtime-Sequenz: laut, aggressiv, besoffen, bekifft, zudringlich und abschweifend. Abende unter Freunden. Zeugnis und Happening zugleich.

Wie bei seinen Farbfotos war Eggleston mit dem neuen Medium auf der experimentellen Suche nach einer suggestiven Kunstform des Authentischen. Inzwischen ist sein Weg Legende. Erstmals museal wurden Egglestons vorgebliche Schnappschüsse übrigens bereits 1978. Damals kaufte Klaus Jürgen Sembach für die Neue Sammlung München eine Auswahl der bedeutsamen Farbfoto-Essays über das vorgeblich so Banale und Vulgäre. Egglestons Weltruhm begann in München, in Graz beim „Steirischen Herbst“ und in den Berliner Workshops in Michael Schmidts Werkstatt für Fotografie.

Bis 17. Mai 2009 im Haus der Kunst München, Katalog (Yale University Press), 49 €