Das Dilemma des Ministers

Kulturstaatsminister Bernd Neumann hat Rechtsmittel gegen das Urteil des Berliner Landgerichts eingelegt, in dem das Deutsche Historische Museum (DHM) Berlin zur Herausgabe eines Plakats aus der Sammlung Hans Sachs verpflichtet wird

Es scheint ein Tabubruch sondergleichen: Der Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) hat am letzten Donnerstag Rechtsmittel gegen ein Urteil des Berliner Landgerichts vom Februar eingelegt, in dem das zum Bund gehörige Deutsche Historische Museum (DHM) Berlin zur Herausgabe eines Plakats aus der Sammlung Hans Sachs verurteilt wurde. Als der Sammler 1938 von der nationalsozialistischen Judenverfolgung ins Exil gezwungen wurde, war die Sammlung von der Gestapo widerrechtlich beschlagnahmt worden. Ein Minister, mithin also der deutsche Staat, widerspricht demnach einem richterlichen Urteil, das einen NS-Verfolgten beziehungsweise seinen legitimen Erben doch nur Gerechtigkeit bringt.

Doch der „Fall Sachs“, wie er nach jahrelangen Auseinandersetzungen mittlerweile heißt, liegt komplizierter, als es auf den ersten Blick erscheint. Nicht deshalb, weil das Urteil über das Plakat, so es rechtskräftig würde, einen Präzedenzfall für die gesamte Sammlung abgäbe und dann jene insgesamt etwa 4.000 Plakate zurückgegeben werden müssten, die von den einst 12.000 Plakaten übrig sind und die sich heute in DHM-Besitz befinden. Hinter dem Widerspruch Neumanns steckt vielmehr die Befürchtung, das Berliner Urteil könnte die gesamte, mühsam errungene und sich langsam nur durchsetzende Rückgabepraxis in der Bundesrepublik über den Haufen werfen, wie sie sich in Folge der sogenannten Washingtoner Prinzipien in den vergangenen zehn Jahren herausgebildet hat.

1998 hatten darin 44 Staaten und 13 NGOs feierlich erklärt, für Kunstgegenstände, die jüdischen oder als jüdisch Verfolgten im Nationalsozialismus abgepresst oder geraubt worden waren, nach „fairen und gerechten Lösungen“ zu suchen – auch dann, wenn formaljuristisch, etwa wegen Verjährung, keine Ansprüche mehr durchzusetzen sind.

Genau dies, so glaubte man bis zum Berliner Urteil, sei auch bei der Sammlung Sachs der Fall. Nachdem Peter Sachs 2005 die Sammlung seines 1974 verstorbenen Vaters beansprucht hatte, war die in Deutschland zuständige Beratende Kommission aktiv geworden, die in Streitfällen nur einvernehmlich von beiden Seiten angerufen werden kann und lediglich Empfehlungen ausspricht. Die „Limbach-Kommission“, wie sie nach ihrer Vorsitzenden, der Ex-Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, Jutta Limbach, genannt wird, plädierte gegen eine Rückgabe, da Hans Sachs 1966 in einem Briefwechsel mit einem Kunsthistoriker in der DDR, wo die vermisst geglaubte Sammlung überraschend wieder aufgetaucht war, festgehalten hatte, er habe kein materielles, sondern lediglich ein ideelles Interesse am Verbleib seiner Sammlung. Auch nach 1990 erhob Hans Sachs – anders als später sein Sohn – keine Ansprüche. Brief und Umstände las die Limbach-Kommission als Eigentumsverzicht, nicht jedoch die Erben und das Berliner Landgericht. Sie gehen davon aus, Hans Sachs habe lediglich keine Möglichkeit gesehen, Forderungen zu stellen.

Natürlich muss man die Frage stellen, ob Museen nun nach dem Urteil – auch wenn dies moralisch weiterhin geboten wäre – tatsächlich noch eine Kommission anrufen werden, deren Empfehlungen von Gerichten gekippt werden können. Und ob sie mit hohen Kosten und Aufwand freiwillig eine Provenienzforschung betreiben, die am Ende, falls die Limbach-Kommission nicht die Rückgabe empfiehlt, möglicherweise nur die Beweismittel für Prozesse liefert. Umgekehrt könnten jüdische Eigentümer und ihre Erben dadurch regelrecht gezwungen werden, vor Gericht zu gehen.

Dem Kulturstaatsminister sind keine unlauteren Absichten zu unterstellen. Im Gegenteil: Bernd Neumann hat sich in der Vergangenheit glaubhaft dafür eingesetzt, das schändliche Kapitel des nationalsozialistischen Kunstraubs und die Verzögerung von Rückgaben in der Nachkriegszeit zu einem für die Eigentümer beziehungsweise ihre Erben guten Ende zu bringen. Wegen mangelnden Engagements bei der Provenienzforschung auf Seiten der Museen richtete er vor gut einem Jahr eine mit einer Million Euro Jahresetat ausgestattete Arbeitsstelle ein. Gerade deshalb sieht sich Neumann gezwungen, mit einer „Überprüfung des erstinstanzlichen Urteils“ juristische Klarheit herzustellen, wie sein Sprecher die Berufung zu versachlichen versucht. Ein fatales Signal, dass er dabei in einem konkreten Fall nun gegen eine Rückgabe von NS-Raubkunst vorgehen muss.

ROBERT SCHRÖPFER