ausgehen und rumstehen
: Ein genialer Coup: Bela B. im Admiralspalast

Jemand liest drei Stunden aus einem Buch vor, das er nicht einmal selbst geschrieben hat. Andauernd wird er unterbrochen von Zurufen und Begeisterungsattacken seitens des Publikums, am Ende muss er Autogramme verteilen, „aber nur eine halbe Stunde lang, mehr geht echt nicht.“

Wenn man es nicht selbst gesehen hätte, würde man kaum glauben, dass es so etwas gibt, eine Lesung als Event, ein Vortrag mit der Unmittelbarkeit eines Popkonzerts. Bela B., Schlagzeuger der Ärzte und erwiesenermaßen einer der sympathischsten und integersten Popstars des Landes, las im Admiralspalast aus John Nivens monströsem Roman zum Untergang der Musikindustrie „Kill Your Friends“, und das Ganze war kurzweiliger als jede Comedy-Show.

Bela B. las natürlich nicht nur einfach so, etwas zu verkaufen hatte er schon, das Hörbuch zu Nivens Werk, das er eingelesen hat und das den Roman, der im letzten Jahr erschienen ist und unverständlicherweise nicht ganz vorne in den Bestsellerlisten landete, nochmals neuen Zielgruppen näher bringen soll. Das Ganze erscheint jetzt schon als genialer Coup. „John Niven liest aus dem ultragewalttätigen, total versauten und politisch absolut unkorrekten Roman ‚Kill Your Friends‘“, das klingt schon gut; ersetzt man den Namen des schottischen Autors aber durch „Bela B.“, ist in Deutschland einfach jede Bude voll.

Und so saß man dann zwischen all den Ärzte-Fans, die einfach nochmals ein Stück fanatischer sind als alle anderen Fans, die teilweise Bela B. sogar auf seiner Lesereise begleiten, ihn schon in Hamburg erlebt haben und auch bei seiner nächsten Station in Köln dabei sein werden. Es wurden Kapuzenpullis mit dem Aufdruck „Ärzte“ spazieren getragen, und wäre John Niven selbst da gewesen, er hätte sich bestimmt ein wenig gewundert, wie wenig sich die Auogrammjäger um ihn gekümmert hätten.

Diese Fans werden sich alle das Hörbuch zulegen und den gebundenen Roman vielleicht noch obendrauf, schon aus Prinzip, aber auch, weil der Abend mit Bela B. so toll war. Es gibt einen Dokumentarfilm, der zeigt, was für ein hartes Geschäft es ist, Ärzte-Fan zu sein. Man ist einer von vielen und jeder wünscht sich nichts sehnlicher, als einmal ein persönliches Wort von Farin, Rod oder Bela zugesteckt zu bekommen. Für dieses Ziel, so zeigt der Film, reisen diese Fans ihren Lieblingen sogar bis nach Japan hinterher.

Und doch geht von dieser Spezies Ärzte-Fans etwas angenehm Beruhigendes aus. Sie wollen gar nicht cool oder hip wirken, wie jeder sonst in Berlin, die Einheitsfarbe im Admiralspalast war neutrales Schwarz. Klamotten von H&M reichen völlig aus, und so wie die Ärzte zwar heute immer noch unverschämt erfolgreich sind, bleiben sie doch ein Phänomen der Achtziger, und genau so achtzigerjahremäßig, so klar einsortierbar, wirkte auch die Bela-B.-Fanschar.

Um den Ärzte-Mann ging es also, nicht um Kultur im Sinne von „Lesung“, was im Allgemeinen eine Stunde konzentriertes Zuhören und gedämpftes Geplauder danach im Foyer bedeutet, zur Vertreibung der angestauten Langeweile. Bela B. hätte auch aus dem Telefonbuch vorlesen können, die Meute hätte gejohlt. Doch er las ein „Best of“ der derbsten Stellen aus „Kill Your Friends“, in denen beschrieben wird, wie der sexistische, rassistische und durch und durch verdorbene Plattenheini Steven Stelfox sich bekokst durchs Leben vögelt, brutale Morde begeht und sich permanent danebenbenimmt. „Ich steckte bis zu meinen Eiern in ihrem Dungrohr“, solche Sätze wurden vorgetragen, drei Stunden lang, eine Pointe auf Kosten des guten Geschmacks jagte die nächste.

Irgendwann wurden Bilder von Bela B. in lustig selbstironischen Steven-Stelfox-Positionen an eine Leinwand projiziert, die Lesung wurde zur Stand-up-Comedy, Versprecher klangen wie „verwichst“, und weit nach Mitternacht war immer noch nicht Schluss. Die beste Party war am Wochenende in Berlin eine Lesung. ANDREAS HARTMANN