Aus Schlangenhaut

In der Hamburger Kunsthalle sind kaum bekannte Arbeiten von Sigmar Polke aus den Siebzigern ausgestellt. In wechselnden Identitäten oszillierte der Künstler damals um die Pole Pop und Politik

Der Kunstmarkt schätzt Polkes Werke aus den Siebzigern nicht besonders. Die Ausstellung betont die Wichtigkeit dieser Werkphase

VON HAJO SCHIFF

Nicht Afghanistan oder Kalifornien, das Zentrum für psychedelischen Ausstieg ist Willich am Niederrhein. Jedenfalls für die westdeutsche Kunstszene in den Jahren 1972–1978. Auf einem Bauernhof teilte Sigmar Polke seine wildeste Zeit mit einer Clique von Künstlerfreunden und internationalen Besuchern. Das materielle Hauptwerk dieses künstlerischen Lebens-Experiments ist der Zyklus „Wir Kleinbürger! Zeitgenossen und Zeitgenossinnen“. Diese zehn nach einem Essay von Hans Magnus Enzensberger im „Kursbuch 45“ von September 1976 betitelten Bildtafeln zu Konsumterror und Paradiessehnsucht, Demonstrationen und Illusionen werden jetzt in der Hamburger Kunsthalle ausgestellt.

Die je etwa zwei mal drei Meter großen zitatenreichen Papierarbeiten wurden seit fast 30 Jahren nicht mehr gezeigt. Das liegt vor allem daran, dass der Kunstmarkt im Gegensatz zu den früheren und späteren Gemälden des deutschen Großkünstlers die experimentellen Zeichnungen und Fotos aus diesem Jahrzehnt nicht besonders schätzt. Dagegen betont die Hamburger Ausstellung die Wichtigkeit dieser Werkphase und ihre besondere Bedeutung als Kulturdokument. Sie zeigt von Polke und den Freunden eine Fülle von weiteren Arbeiten, darunter den 30 Meter langen braunfleckigen Fotofries mit Kollegen aus der Hamburger Kunsthochschule oder die für die Berner Galerie Toni Gerber zusammengestellte ironische Diaschau von 1976. Dazu kommen zahlreiche Schallplatten und Underground-Comics, die den starken Einfluss der damaligen Popkultur belegen.

Leitmotivisch für allerlei Wechselspiel in der kreativ delirierenden Künstlerclique hängt die Haut einer Python am Eingang der Ausstellung, eine Fotoserie zeigt Polke mit der Schlangenhaut agierend, im Bild „Menschenschlange“ sind die Köpfe mit Schlangenformen aus phosphorisierenden Farben übermalt. Es ist klar, die einem der Bilder eingeschriebene Frage „Can you always believe your eyes?“ ist eindeutig negativ zu beantworten. Im Spiel mit Identitäten und Geschlechterrollen waren die Autorschaften oftmals unklar, Anregungen, Aufregungen und Ausführungen wechselten. So ist der Beitrag zur Biennale von São Paulo 1975 eine kollektive Zeitung, auch neben dem Telefon entstehen Gruppenzeichnungen, die allerdings nur durch Polkes Unterschrift verkäuflich wurden.

Die anregende Ausstellung wird in ihrer elfmonatigen Laufzeit dreimal verändert. Das gibt die Möglichkeit, drei unterschiedliche Themen anzuspielen, „Clique“, „Pop“ und „Politik“ überschrieben. Es hat aber auch einen praktischen Grund: Mangelhaft fixierte Fotos und auf einfachen Papieren produzierte Zeichnungen können nicht allzu lange dem Licht ausgesetzt werden. Von der Kunsthalle auch als ein Beitrag zur Entschleunigung der Ausstellungsszene angepriesen, behandelt die mehrfache Neuinszenierung die seltene Leihgabe wie sonst einen festen Museumsbestand, der ab und an in neue Kontexte gesetzt wird. Zumindest für die nächsten Wochen geschieht dies nicht nur in den angrenzenden Räumen. Zwei Stockwerke unterhalb des Polke-Universums ist das ganze Kellergeschoss der dunklen Seite der Befreiung von Konventionen gewidmet: „MAN SON 1969. Vom Schrecken der Situation“ spannt noch bis Ende April einen Bogen von der Mondlandung über Flower-Power, von Joseph Beuys und Günter Zint bis zur Manson-Family und der RAF zu den gebrochenen Utopien der Gegenwart. Und die hippiebunte, gelegentlich fast kitschige Seite der Siebziger zeigt bis Juni das Ernst-Barlach-Museum in der Ausstellung „Der Engel und sein Schatten“ mit Arbeiten des Künstler-Nomaden Michael Buthe. So bieten die Hamburger Museen zur Zeit mit drei Ausstellungen intensiv Gelegenheit, die 70er-Jahre zu nostalgieren, ohne dass dieser Schwerpunkt offiziell betont würde – die Stadtwerbung setzt da mehr auf Matisse und Degas.

Speziell für die Zeitgenossen der 70er-Jahre stellt sich auf den Sitzsäcken der Ausstellung ruhend die Frage: War die hier beschworene Stimmung Teil des eigenen Erlebens? Oder hätte sie es sein können, gar sein sollen? Wie viele von diesen Energien, die nun in der Kulturgeschichtsschreibung erstarren, konnten damals selbst erlebt werden oder waren gar die eigenen? In zahlreichen Parallelwelten wurden die einen berühmte Künstler, andere führte der Aufbruch ins Nichts, manche starben an Drogen oder wurden eben mehr oder weniger Kleinbürger. Die Ausstellung zeigt gut, wie man wegkommt, aber wie kommt man wieder? Eine Silvesterfeier als Projektion auf Zucker, ein künstlerischer „Lehrfilm“ von Christof Kohlhöfer darüber, wie eine „Tüte“ gedreht wird, und Referenzen an härtere Drogen werden vorgeführt. „Day by day … they take some brain away“: Das Songzitat von David Bowie meint die nervige Kleinbürgerwelt, gilt aber nicht weniger für Drogen aller Art.

Polke selbst vermied den Weg vom Kitschbrecher zum Giftbecher und streifte die hier ausgebreitete Szene in den 80er-Jahren ab wie eine seiner Schlangenhäute. Er zog sich völlig zurück und wurde bis heute ein fast einsiedlerhaft unnahbarer Künstlerstar, auf Weltniveau hochgepriesen und bestbezahlt. In dieser ersten Ausstellungsvariante zeigen die restlichen beiden Räume der zum Polke-Stockwerk gewordenen Etage der Galerie der Gegenwart auch die kunstmarktkompatibleren Werke: Sowohl Rasterbilder aus den späten Sechzigern wie blaue Fernsehbilder vom Ende der Neunziger sperren die Restkritik in Tafelbildformat. Allein der verquere „Apparat, mit dem eine Kartoffel eine andere umkreisen kann“, von 1969 scheint in diesem Sammlungsteil eine Brücke in die verrückte Welt des übrigen Rundgangs zu bieten, in jenes Zeitpanorama, das in den zehn großen „Kleinbürger“-Arbeiten komplex und exemplarisch verdichtet ist.

bis 28. Juni Teil 1: Clique; 12. Juli bis 4. Oktober Teil 2: Pop; 16. Oktober bis 31. Januar 2010 Teil 3: Politik.; Hamburger Kunsthalle, Katalog (Buchhandlung Walther König) 48,– €