Ein Meister der Groteske von Weltrang

„Tote Seelen“, „Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen“: Der 200. Geburtstag beschert uns interessante Neuübersetzungen des russischen Klassikers Nikolai Gogol

VON BARBARA KERNECK

Durch die abgelegenen Straßen und Gassen der Stadt rasselte ein höchst sonderbares Gefährt. Es glich weder einem Reisewagen noch einer Kutsche oder einer Kalesche, sondern eher einer auf Räder gestellten bauchigen, dickwangigen Melone. Die Wangen dieser Melone, also die Wagentüren, trugen Spuren von gelber Farbe, ließen sich wegen des schlechten Zustands der Türgriffe und Schlösser sehr schlecht schließen und waren mehr recht als schlecht mit Stricken festgebunden. Die Melone war mit Kattunkissen beladen, die aussahen wie Tabakbeutel, Sofarollen oder eben wie Kissen, und sie war vollgestopft mit Säcken voller Brot, mit Kalatschi, Kokurki und mit süßen Brezeln. Eine mit Hühnerfleisch gefüllte Pirogge und eine Pirogge-Rassolnik lugten sogar oben heraus.“

Hier bahnt sich ein Höhepunkt im Roman „Tote Seelen“ an, Hauptwerk des ukrainisch-russischen Dichters Nikolai Gogol. Die Gutsbesitzerin Korobotschka (deutsch: Schächtelchen) verfolgt in diesem Vehikel den leicht satanischen Hochstapler Tschitschikow. Als „Seelen“ wurden im zaristischen Russland Leibeigene bezeichnet. Verstarb einer von ihnen, musste ihn sein Gutsherr bis zur nächsten Revision als Inventar führen und für ihn Steuern zahlen. Tschitschikow versucht, die Gutsbesitzer eines Provinzstädtchens nacheinander durch Kaufverträge von diesen „toten“ Seelen zu befreien, um diese dann als eigenes „Kapital“ zu beleihen. Dies gibt dem Autor Gelegenheit, einen Reigen kauzigster Charaktere vorzuführen.

Gogol, Meister der Groteske von Weltrang und Vorbild aller russischen Schriftsteller seit Dostojewski, ist bei deutschen Lesern ein wenig in Vergessenheit geraten. Die bisherigen Übersetzungen blieben sperrig. Zwei Verlage wollen dem nun abhelfen. Die zitierte Passage stammt aus der Neuübersetzung der „Toten Seelen“ von Vera Bischitzky. Anhand einer kritischen Edition spürte sie Druckfehler auf, die sich bis heute in russischen Ausgaben hielten. Für eine Vielzahl veralteter Gegenstände fand sie deutsche Entsprechungen und grub Rezepte für Speisen aus, die im heutigen Russland nicht mehr existieren. Die Bezeichnungen für sehr kompliziert Zusammengesetztes, wie die Pirogge-Rassolnik, belässt sie russisch, ebenso die sprechenden Personennamen. Sie erläutert sie im Anmerkungsapparat, der sich selbst wie ein spannendes Buch liest.

Wir haben es hier eher mit der Übersetzung einer Wissenschaftlerin als mit einer Nachdichtung zu tun. Trotzdem ist diese Version von allen bisherigen am eingängigsten, denn Vera Bischitzky bewahrt die verbale Glätte an den Kanten zwischen verschiedenen Episoden. In keiner bisherigen Übertragung des Romans rasselte die Kutsche so dynamisch. Tschitschikow entzieht sich seinen Verfolgern am Ende in einer dramatischen Troika-Flucht. So, in Richtung Westeuropa, floh auch Gogol selbst oft vor Gläubigern und Kritikern.

Mit einer Troika-Vision des Helden auf seinem Sterbebett endet auch die Novelle „Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen“. Die Friedenauer Presse präsentiert sie in einer neuen Übersetzung Peter Urbans. 2008 wurde er für sein Gesamtwerk mit dem russischen Turgenjew-Übersetzerpreis gewürdigt. Urban hat von der zaristischen Zensur aus der Novelle gestrichene Sätze wieder eingefügt. Er beschert uns Ausführungen zur Textgestalt, ein Nachwort und ebenfalls einen Anmerkungsapparat.

Bei der Novelle handelt es sich um das fiktive Tagebuch eines Federkielanspitzers bei einer Petersburger Behörde. Dieser glaubt eines Tages, die Unterhaltung zweier Hündchen zu belauschen. Er folgt einem der Tiere und verliebt sich in dessen für ihn unerreichbare Besitzerin. Sein zunehmender Wahnsinn schlägt sich unter anderem in Datumsangaben nieder, wie: 86. Märzober.

Peter Urbans Übersetzung ist eigenwillig. Oft wählt er die der deutschen Umgangssprache fernste Variante. So sagt der Held über den Kassierer, der ihm einen Vorschuss verweigert: „In der Wohnung schlägt ihn die eigene Köchin auf die Wangen.“ Die Wendung im Russischen bedeutet sonst: „ohrfeigt ihn“. Angestrebt wird offenbar ein verfremdetes Deutsch, um dem Wahnsinn des Protagonisten gerecht zu werden.

Auch in Österreich erwartet man eine Gogol-Novität, allerdings erst für 2010. Das Theater an der Wien will eine Gogol-Oper uraufführen, die es bei der russisch-amerikanischen Komponistin Lera Auerbach bestellte. Reichlich Gogol-Zitate enthält deren selbstverfasstes Libretto. Eine erste Fassung hat die Berliner Übersetzerin Birgit Veit aus dem Russischen übertragen, eine absurde Kollage aus Gogols Werken, seinem Leben und Zitaten von Freud, Jung, Feuerbach, Schlegel und Hegel. Birgit Veit verriet, dass am Anfang und Ende ein „Wiegenlied an den Mond“ steht, hinter den Kulissen gesungen von einem Jungen – womöglich Gogol als Kind.

Nach dem großen Erfolg der „Toten Seelen“ geriet Nikolai Gogol unter den Einfluss religiöser Fanatiker, die den ersten Band des auf drei Teile angelegten Romans als „ketzerisch“ ablehnten. Er verbrannte den fast fertigen zweiten Teil und fastete sich langsam zu Tode, gepiesackt von ignoranten Ärzten mit Aderlässen, Blutegeln und kalten Bädern, ganz wie der Held der „Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen“. Er starb 1852 im Alter von 42 Jahren. Geboren worden war der Dichter als Sohn eines ukrainischen Gutsbesitzers am 20. März 1809. Nach der alten russischen Zeitrechnung war es der 1. April, was viel besser zu ihm passt.

Nikolaj Gogol: „Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen“. Aus dem Russischen von Peter Urban. Friedenauer Presse, Berlin 2009, 80 Seiten, 16 Euro „Tote Seelen“. Aus dem Russischen von Vera Bischitzky. Artemis & Winkler, Düsseldorf 2009, 524 Seiten, 89 Euro