Diskussion zur digitalen Revolution: "Rasender Stillstand"

Historiker und Medienwissenschaftler diskutierten in Potsdam, wie man heute Zeitgeschichte schreibt: zwischen Onlinehistoriografie und medial inszenierter Gelehrtenpersönlichkeit.

In der Klemme: Buch, Foto und Film waren gestern. Heute werden alte Bücher digitalisiert und Neue Geschichte häufig nur noch per SMS und Mail festgehalten. Bild: dpa

Steht die Zeitgeschichtsschreibung unter dem Einfluss der Medien? Und zeigt sie sich der Herausforderung durch die "digitale Revolution" gewachsen? Das Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZFP) hatte zu einer Konferenz geladen, bei der sich Historiker und Medienwissenschaftler trafen, ohne aufeinanderzuprallen.

Obwohl die Historiker konzedierten, dass die Zeitgeschichte nicht nur den Zeithistorikern gehört, wurde doch ein starker Druck auf die Zunft seitens der Presse, der Verlage, des Fernsehens und der Museumsleute konstatiert. Dieser Druck betrifft nicht nur die Themensetzung und die damit verbundenen Kampagnen, sondern beeinflusst auch die Arbeitsweise der Historiker. Trotz dieses Befunds zeigten die Zeithistoriker auf der Konferenz keinerlei Frontstellung, sondern Problembewusstsein. Hierin wurden sie von den Medienwissenschaftlern bestärkt.

In seinem Einleitungsreferat sah Martin Sabrow die Zeitgeschichtsschreibung durch "Medialisierung" und "Memorialisierung" strukturell verändert. Medialisierung umfasst nach ihm zwei gegensätzliche Tendenzen. Auf der einen Seite die anonyme Onlinehistoriografie, hinter der der Autor zu verschwinden droht. Auf der anderen Seite die Feier der großen, medial inszenierten Gelehrtenpersönlichkeit. Memorialisierung hingegen meint den Siegeszug einer emphatischen Subjektivität und die Feier des Zeitzeugen. Der Zug geht, so Sabrow, von der historischen Wahrheit zur historischen Authentizität.

So düster mochte es eine Reihe von Referenten nicht sehen. Peter Schöttler verbuchte auf der Haben-Seite die Abkehr der Zeitgeschichte vom Germanozentrismus und von den Fesseln des Historismus mit seiner apologetischen Tendenz, sich in historische Protagonisten einzuleben. Er erwähnte neu übernommene Forschungsmethoden wie die Diskursanalyse. Andere Vortragende freilich konzentrierten sich auf die bislang ausgebliebene Rezeption nichtschriftlicher Quellen: Foto und Film gestern, das Internet heute. Bislang werde nur ungenügend Bildmaterial in der Zeitgeschichtsschreibung berücksichtigt und dies oft auf eine "inhaltistische" Weise, der die Eigenlogik des Mediums Bild entgehe.

Gänzlich unbearbeitet blieben die Probleme digitaler Archivierung. Was, wenn Quellen verändert werden, wenn sie verschwinden oder gar nicht erst archiviert werden wie der E-Mail- und SMS-Verkehr, der doch eine groß politische Bedeutung besitzt? Oder soll alles ewig im Internet stehen bleiben? Befinden wir uns schon in einer Periode "rasenden Stillstands"? Gar nicht zu reden von Lorenz Engells anhand eines Fallbeispiels erläuterten Nachweises, wie mittels Digitalisierung der Unterschied zwischen fiktiver und "realer" Realität aufgehoben wird.

Kontrovers wurde die Frage diskutiert, welche Bedeutung Hypertexte für die zeitgeschichtliche Forschung haben können. Solche Texte verzichten auf eine lineare Erzählweise, haben also weder Anfang noch Ende. Der Text wird in kleine, selbstständige Elemente zerlegt und mit einer Anzahl weiterer Bausteine verknüpft; der Leser muss sich seinen eigenen Pfad bahnen. Historisch ist die Verlinkung eine sehr alte Methode, sie wurde schon im Talmud mit seiner dreifachen Gliederung von Text, späterem Zusatztext und Kommentar praktiziert. In der Neuzeit setzte sich der Hypertext dann mit den Enzyklopädien ab 1751 fort, um schließlich bei den Handbüchern und ihren immer weiter verweisenden Fußnoten zu landen. Charakteristisch ist hier, so der Referent Peter Haber, nicht nur die Vielzahl in sich abgeschlossener Bausteine, sondern ihre teils explizite, teils implizite Verknüpfung. Das wurde schon von den Zensoren der Enzyklopädie des 18. Jahrhunderts als das eigentliche Gefahrenmoment angesehen.

Gegen die Verwendung der Hypertexte wurde in der Diskussion eingewandt, dass mit der Aufgabe einer linearen Erzählweise auch die Kausalität innerhalb einer Ereigniskette verloren gehe. Damit werde aber die Aufgabe des Historikers, einen Ablauf nach Ursache und Wirkung zu rekonstruieren, verfehlt. Ein weitere Einwand betraf die Methode der Gruppenarbeit im digitalisierten Netz. In dem Maße, in dem die Hypertexte anonym bleiben oder anonym verändert werden könnten, gehe die Verantwortlichkeit für diese Texte verloren. Doch nach wie vor sei es der Autor, der gegenüber dem Publikum einen Text "verbürge".

Gegen Ende der Tagung begab sich ein Podium auf das abschüssige Terrain der Emotionen. Es ging um die Geschichte der Emotionen und um die Emotionen im Werk der Zeithistoriker selbst. Hier freilich verweigerten die ebenso offenen wie diskussionsfreudigen Konferenzteilnehmer die Auskunft.

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