BERLINER SZENEN ZUGGESPRÄCHE
: Schwarzer Kajal

„Kaum bin ich ehrlich, seid ihr beleidigt!“

Der Berliner Hauptbahnhof sieht wie immer grau, wüst und weit aus. Im Kellergeschoss, fröstelnd: warten auf den Zug nach Amsterdam. Warum bloß hat die Bahn den Architektenentwurf, das Glasdach, nicht umgesetzt? Beton, wohin das Auge schaut. Hier unten scheint die Welt zu enden. Im Zug: lesen, Zeitungsrascheln, Stille bis irgendwo hinter Hannover.Dann steigen sie ein. Ein halbes Dutzend Jugendliche auf dem Weg zum Schüleraustausch nach Holland und eine beflissene Lehrerin. Dicke Kajalaugen, die das Abteil erkunden, pinke Leoparden-Shirts, die sich an die Nachbarin anlehnen, Sweat-Shirt-Jacken mit Kapuze, aus denen dünne Arme in Chipspackungen greifen.Die Vorstellung beginnt. Hauptrolle: die Kajalaugen, etwa 15 Jahre alt, große Klappe, großes Herz. Nimmt andere in Schutz („Ey, lass die mal, die kann nichts dafür!“) und kein Blatt vor den Mund („Immer wenn ich ehrlich bin, seid ihr beleidigt!“). Größter Traum: „Ey Mann, bald fahre ich nach Berlin, weißt du, was das heißt? Ich gehe in Bushidos Shop und nehme alles von ihm in die Hand, was ich kriegen kann!“. Größtes Problem: dass es im Zug, dem Bummelbähnchen, keinen Internetempfang gibt. Die holländische Grenze kommt, Personenkontrolle. Die Kajaläugige zückt einen roten Pass mit Halbmond drauf, behält ihn in der Hand und sagt kokett: „Das Foto ist so hässlich, das will ich Ihnen nicht antun!“ Der Holländer lächelt.Hinter der Grenze recken die Jugendlichen die Hälse und schauen zum Fenster hinaus. „Die Jungs sehen hier aber auch echt scheiße aus“, murmelt eine. „Schau mal, Ikea und MacDonald’s“, ruft ein anderer. „Solange ich bei euch bin, fühle ich mich nicht fremd“, sagt die Kajaläugige, „wir können ja Deutsch sprechen“. Kurz bevor der Zug Amsterdam erreicht, steigt die Gruppe aus. Die Chipspackungen haben sie vorher brav in den Mülleimer geworfen.MIRIAM JANKE