Wider das Schwarz-Weiß

„Sag mal, Alte, hast du mich grad angeglotzt?“ Eine scharfe Stimme zwingt mich, im U-Bahn-Waggon den Blick vom Philosophiebuch zu heben: „Versteckte Wendeltreppen in den Keller der Erkenntnis des Nachbewussten am Rande saumseligen Halbhandelns“. Vorsichtig luge ich nach rechts. Dort baut sich ein schwarz gekleideter Riese vor einer Oma auf. Weißes Kleid, blaues Schleifchen im sorgsam ondulierten Silberhaar, kauert sie geduckt in der Ecke. „Nein“, flüstert sie, „nein, ich habe Sie nicht angesehen, junger Mann, ganz gewiss nicht!“

Der Typ entreißt ihr mit einem Finger die Handtasche und schallert ihr eine, dass der Kopf wie schlecht befestigt hin und her schlenkert. Zum Schläger gesellen sich zwölf weitere Männer, auch sie alle in Schwarz. Gemeinsam nehmen sie nun die alte Frau in die Mangel. „Hilfe“, ruft sie schwach, „helft mir doch!“

Zuvielamarsch

Ich stutze. Sollte ich irgendetwas unternehmen? Gibt es da nicht so’n belgisch klingendes Schlagwort, „Zivilcourage“ oder so? Ach was, Zivilcourage – Zuvielamarsch. Und schließlich wüsste ich noch nicht mal genau, für wen ich mich überhaupt einsetzen sollte. Einem einfältigen Menschen schiene die Sachlage natürlich eindeutig: Aha, aha, auf der einen Seite einzelne Oma, auf der anderen dreizehn Männer? Sie sitzt still da, die Männer greifen sie an? Soso, soso? blaues Schleifchen hier, stählerner Schlagring dort? Sie trägt Weiß, die tragen Schwarz, alles klar.

Spätestens bei diesem unsäglichen Schwarz-Weiß-Ding aber müssen jedem aufgeklärten Menschen doch die Alarmglocken schrillen: Einmal mehr drohen wir hier den in uns abgespeicherten Darstellungskonventionen auf den Leim zu gehen. Stereotype Rollensymbole unterteilen Gut und Böse, Dunkel und Hell, Recht und Unrecht. Und dann die Zahl Dreizehn – Gott, geht’s noch dümmer? Da fehlt bloß das Big Hollywood Philharmonical Orchestra im Hintergrund.

Ein Leben lang wird unser Denken mit solchen platten Botschaften verseucht – das geht schon im Märchen los: Wer kriegt den Prinzen? Schneeweißchen. Wer nur den Bruder? Rosenrot. Das Leben ist aber nun mal weder Film noch Märchen. Nur wer das reflektiert, ist auch wirklich in der Lage, frei zu urteilen und entsprechend zu handeln. Wo wir uns eben noch eine vertraute Dummengleichung zurechtbasteln wollten, macht sich plötzlich ein vielschichtiges System aus unheimlich komplexen Wechselwirkungen bemerkbar, die je nach situativem, sozialem oder politischem Kontext völlig verschiedene Dynamiken entwickeln können. Oder, einfacher gesagt: „Man steckt nicht drin.“

Die Oma ein Opfer? Nie!

Mein Gespür sagt mir jedenfalls längst, dass die Omi angefangen hat – alles andere wäre schlicht zu billig. Sie hat die dreizehn Dunklen provoziert, bestohlen und bedroht. Die Handtasche gehört dem ersten Angreifer. Sie hat damit kalkuliert, eine U-Bahn voll manipulierter Medienopfer vorzufinden, die sie bei ihren Aggressionen gegen die Dunkelmänner auch noch blind unterstützen würden. Sie hat sich verrechnet.

Gewiss sollte ich den Dunklen helfen, schon allein wegen der Zivilcourage, doch ich habe das Gefühl, die schaffen das auch ohne mich. Die Oma wimmert nur noch leise. Mit so viel Gegenwehr hat sie offenbar nicht gerechnet. Das wird ihr eine Lehre sein. Um ein Haar hätte ich ihn beim Aussteigen übersehen, den quadratischen kleinen Aufkleber, der zurzeit an so vielen U-Bahn-Türen prangt. An jeder der vier Ecken ein Wort: „Halt. Gewalt. Mach. Mit.“ Eine feine Kampagne! Die haben Recht. Es geht auch ums Prinzip, da kann es nicht sein, dass einer wie ich sich einfach drückt. Halt. Die Türen schließen sich wieder, ich bleibe im Wagen. Gewalt. Schiebe zwei Dunkle beiseite und mache mit. So gefährlich wirkt die Oma inzwischen auch gar nicht mehr – der haben wir den Zahn wirklich gründlich gezogen.

Uli Hannemann liest heute Abend aus seinem neuen Buch „Neulich im Taxi“: Karstadt am Hermannplatz, Dachgarten, 20 Uhr