Von Geburt an dagegen

HASCHREBELL Der Porträtfilm „Das Neuss Testament“ von Rüdiger Daniel ist eine liebevolle Hommage an einen Satiriker, der alles als Erster gemacht hat

Der Mann klopfte Sprüche wie andere Menschen Kalbsschnitzel. Als er am 5. Mai 1989 mit 66 Jahren an Krebs starb, hinterließ er ein einzigartiges Satirekonglomerat. 44 Jahre Bühnen- und Filmauftritte, wegen politischer Spitzen und scharfzüngiger Bonmots abgesessene Haftstrafen. Von der Bild-Zeitung war ihm der Titel „Verräter der Nation“ verliehen worden – Wolfgang Neuss hatte 1962 in einer Zeitungsanzeige den angeblich von seiner Mutter erratenen Namen des Täters in einem Durbridge-Fernsehkrimi veröffentlicht. Von Geburt an dagegen – Neuss begrüßte den damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker in den 80ern in einer Fernsehshow mit den Worten: „Auf deutschem Boden darf nie wieder ein Joint ausgehen!“

Auch Weizsäcker kommt in Rüdiger Daniels umfassendem Neuss-Porträt „Das Neuss Testament“ zu Wort und ergeht sich in Nettigkeiten über den ehemaligen Mit-Talker. Daniels hat Neuss’ Schwester befragt, hat mit alten Freunden und Freundinnen, Pflegern und Kollegen gesprochen. Doch der Anstoß zu dem Dokumentarfilm kam von Neuss selbst: Er hatte den Filmemacher drei Tage vor seinem Tod in seine Charlottenburger Wohnung gerufen, um seine Geschichte zu erzählen. So lebt die Doku vor allem davon, dass der zahnlose Haschrebell wie ein gut gelaunter Medizinmann vor einer Wandcollage aus Bildern, Sprüchen, Kerzen und Erinnerungsstücken hockt und sich und die Welt kommentiert. Seine Kommentare, genial wie eh und je, kordeln das Porträt, das ansonsten einfach eine unterhaltsame Aneinanderreihung von Erinnerungs-O-Tönen und Film- und Bühnenprogrammausschnitten wäre, zu einem kritischen Stück Zeitgeschichte zusammen.

Man kann viel von Neuss lernen – über Konsequenz (er schoss sich mit 18 Jahren einen Finger ab, um dem Dienst an der Ostfront zu entkommen), über Pazifismus (sein bekanntester Film „Wir Kellerkinder“ erschreckte Nachkriegsdeutschland durch die Geschichte um einen HJ-Trommler, gespielt von Neuss in kurzen Hosen, der in seinem Keller erst einen Kommunisten vor den Nazis und später seinen Vater vor der Entnazifizierung versteckt), über das Selbstverständnis der Deutschen und der Satiriker (sogar ein alter Weggefährte wird beim In-Erinnerungen-Schwelgen unwirsch von Neuss gestoppt) und überflüssige Esoterik („Ich möchte gar nicht erleuchtet werden!“). Nach dem Film schaut man Satiriker und Comedians, auch die subversiveren, an und muss bewundernd und respektvoll feststellen: Der Mann mit der Pauke hat das alles schon mal gemacht. Und zwar besser und als Erster. JENNI ZYLKA

„Das Neuss Testament“. Regie: Rüdiger Daniel. Deutschland 2008, 72 Min. Ab 30. 4. im Central, Eiszeit und Lichtblick Kino