Kapseln fürs digitale Subproletariat

SCHRIFTEN ZU ZEITSCHRIFTEN „Texte zur Kunst“ umkreist das Leben im Neoliberalismus, „dérive“ zeigt, wie man in ihm wohnt

Von David Brooks, dem liberalkonservativen amerikanischen Autor, stammt das Bonmot, dass die Gegenkultur ökonomisch verloren, aber kulturell gesiegt habe. Brooks, ein Meister jener Ironie, die von Sarkasmus nicht immer leicht zu unterscheiden ist, meint damit, dass Hippies, Sechzigerjahre-Rebellen und radikale Künstler zwar mit ihren antikapitalistischen Flausen gescheitert seien, aber dafür eine Welt geschaffen haben, in der „Kreativität“ und „Freiheit des Lebensstils“ hohe Güter sind. Aus der Utopie wurde ein Bobo-Paradies.

In dem wurden bis vor kurzem Kunstwerke wie Immobilien oder Aktien gehandelt. Mit dem Zusammenbruch der Finanzmärkte werden sie nun „wie toxische Wertpapiere gemieden“, heißt es im Vorwort zum aktuellen Heft von Texte zur Kunst, das sich vorausblickend „Nach der Krise“ nennt. Da aber die Voraussage der Zukunft schwierig ist, geht es im Inneren eher um das, was war. Etwa im Text von Isabelle Graw über Andy Warhol mit dem Titel: „Wenn das Leben zur Arbeit geht“. Warhol wird da als begründende und gleich auch unübertroffene Figur einer Tendenz gezeigt, in der der Künstler sich zur „Celebrity“ stilisiert und mit seinem ganzen Leben zum Teil seines von ihm geschaffenen „Werkes“ wird. Er wird zur „Blaupause für postfordistische Verhältnisse“, der Neoliberalismus schreibt sich ins Leben ein, und das macht ihn schließlich so erfolgreich: „Er bringt uns dazu, seine Ideale zu internalisieren.“

Kreativ sein, auf eigene Rechnung arbeiten, schöpferische Zerstörung – das sind die Catchphrasen. Man glaubt diese Ideologie nicht nur – es ist sogar relativ unerheblich, ob man sie glaubt oder ablehnt, solange man in ihr lebt.

Wenn alles Leben Arbeiten ist, hinterlässt das Spuren in der Stadt. Davon handelt die jüngste Ausgabe von dérive, der ambitionierten „Zeitschrift für Stadtforschung“ aus Wien. Neue Unternehmensorganisationen führen auch zu neuen Architekturen. Ein avanciertes Exempel dafür ist, wie Gabu Heindl in ihrem Aufsatz „Das Leben in Zellen“ schreibt, „die niederländische Versicherungsfirma Interpolis, in deren Hauptquartier in Tilburg rund zwanzig KünsterInnen eingeladen wurden, die unterschiedlichen Bereiche des großen Gebäudes zu gestalten. Die ArbeitnehmerInnen dürfen – manche sagen auch ‚müssen‘ – jeden Tag neu entscheiden, wo sie sich mit ihren mobilen Büro-Accessoires für die Arbeit des Tags niederlassen.“

In der Ära der „Flexibilität“ geht es um „das architektonische Konzipieren von urbanem Nomadismus“ – im Büro, aber auch in der Stadt, in der jeder Ort ein potenzielles Büro wird. Das ist die unromantische Seite des Nomadismus. Wie weit das führen kann, zeigen „Sheep Boxes“ in Japan, die nicht viel größer sind als Pornovideokabinen, mit Bürostühlen, Computer mit Internetzugang. Pendler und Zeitarbeiter, die sich kein Hotelzimmer leisten können, mieten sich stunden- oder nächteweise ein. Kapseln für das digitale Subproletariat, für das im Bobo-Paradies kein Platz ist. Die siegreiche Niederlage der Gegenkultur ist für sie nicht einmal ein halber Gewinn. ROBERT MISIK

Texte zur Kunst: „Nach der Krise“. März 2009, Berlin, 15 € ■ dérive: „Schwerpunkt: Arbeit Leben“. Jänner–März 2009, Wien, 5,50 €