Die Katze mit den zwei Köpfen

KINO IN DER ERSTEN PERSON Indielisboa, das Filmfestival von Lissabon, hat dem französischen Regisseur, Schauspieler und Drehbuchautor Jacques Nolot eine Werkschau gewidmet

Jacques Nolots Filmtrilogie bewahrt die Erinnerung an eine Zeit, als eine repressive, intolerante Gesellschaft besondere Formen schwuler Dramen hervorbrachte. Der Pariser Filmemacher interessiert sich für das Nichtakzeptierte, weil es zum Leben dazugehört

VON CRISTINA NORD

Pierre steht am Herd und macht Kaffee. Es ist vier Uhr in der Früh. Pierre kann nicht schlafen. Er ist nackt. Sein Bauch wölbt sich vor, im Vergleich zu den schmalen Armen und hängenden Schultern ist er grotesk groß. Pierres Haut ist schlaff und mit Muttermalen übersät. Schön ist er nicht, obwohl man ahnt, dass er es mal war. Dennoch hat die Art, wie dieser Körper im Halbdunkel der Morgendämmerung in Szene gesetzt wird, nichts Denunzierendes, eher etwas Würdiges. Die Schönheit liegt weniger im Gegenstand des Blicks als darin, wie die Filmbilder den Blick führen. Man kann sehen, dass Pierre sein Altern hinnimmt. Deswegen empfindet man beim Zuschauen Empathie, statt zum Voyeur zu werden.

Pierre ist ein schwuler Pariser Schriftsteller und Privatier. Lange hat er als Gigolo gelebt, heute geht er auf die 60 zu und ist HIV-positiv, schon „seit 24 Jahren“, wie er einmal sagt. Zugleich ist Pierre mehr als eine fiktive Figur in einem Film, er ist vor allem ein Alter Ego des 1943 geborenen Schauspielers, Regisseurs und Drehbuchautors Jacques Nolot, dem Indielisboa, das eben zu Ende gegangene Filmfestival von Lissabon, eine Werkschau gewidmet hat.

Der Film, in dem Nolot so nonchalant seinen Körper herzeigt, heißt „Avant que j'oublie“ („Bevor ich vergesse“), ist zwei Jahre alt und der dritte Teil einer Trilogie, die mit „L'arrière-pays“ („Hinterland“, 1997) ihren Ausgang nimmt und in „La chatte à deux têtes“ („Die Katze mit den zwei Köpfen“, 2002) ihr schillerndes Mittelstück findet. Wer die Gelegenheit hat, die drei Filme in kurzer Folge hintereinander zu sehen, wird sich erstaunt die Augen reiben, dass Nolot in Deutschland nur wenigen ein Begriff ist – und denen vor allem als Darsteller, etwa in den Filmen André Téchinés oder Claire Denis'. Dabei sind seine Regiearbeiten überaus sehenswert: ein Kino in der ersten Person, aufrichtig, ohne viel Aufhebens darum zu machen, ein bisschen abgeklärt und schamlos in dem Sinne, dass Nolot keine falschen Rücksichten nimmt. In seinen Filmen darf der Sex schäbig ausschauen und Geld kosten, Gedanken an Selbstmord dürfen den Protagonisten genauso plagen wie die Eitelkeit, die Schreibblockaden und das Gefühl, einsam zu sein. In einer Szene von „Avant que j'oublie“ etwa verliert Pierre beim Autofahren die Kontrolle über seinen Schließmuskel, eine Nebenwirkung der vielen Medikamente. Er wollte mit einem Gigolo ausgehen, nun fährt er heim, benutzt dabei sein Mobiltelefon und wird von einem Polizisten angehalten. „Sie wissen, dass das illegal ist, was sie tun?“, sagt der Polizist. „Ich hab' mir gerade in die Hose geschissen“, antwortet Pierre. Der Polizist lässt ihn fahren.

Der erste Teil der Trilogie, „L'arrière-pays“, führt zurück ins Dorf der Eltern, das im Süden Frankreichs liegt. Die Mutter ist todkrank; der Sohn, gespielt von Nolot, heißt diesmal noch Jacques wie der Regisseur und Hauptdarsteller, nicht Pierre wie in den anderen beiden Filmen. Von der ländlichen Umgebung und der Familie hat sich Jacques entfremdet, schon das derbe, die Nasallaute verfehlende Französisch der Eltern hat mit seiner Art zu sprechen nichts gemein. „Warum bist du fast nie zu Besuch gekommen?“, wirft ihm eine Tante vor. Seinen Bruder erinnert er in einer späteren Szene daran, dass er bei seinem ersten Besuch verhaftet wurde. „Was willst du“, sagt der Bruder, „du hast es provoziert.“ – „Weil ich blond gefärbte Haare hatte?“, entgegnet Jacques. Auf einem Dorffest steckt er einem jungen Mann Geld in die Brusttasche und verschwindet mit ihm in den Toiletten; später hat er eine Fantasie von Jugendlichen beim Rugbyspiel. Gefilmt ist sie aus der Untersicht, hungrig schaut die Kamera in den Schritt der jungen Männer.

Höhepunkt der Trilogie ist „La chatte à deux têtes“. Der Film spielt durchgängig in einem Pornokino und taucht dort in einen Zustand ab, in dem Homo- und Heterosexualität alles andere als identitätsstiftende, festgelegte Eigenschaften sind, sondern etwas, was sich, wenn überhaupt, im jeweiligen Vollzug einer sexuellen Praktik herstellt. Maskeraden und Fantasien durchkreuzen jede Kategoriebildung. Zu Beginn des Films betritt eine Tunte das Kino. Sie ist mager, ihr Kleid hat eine ähnliche Farbe wie die Wandverkleidung, sie schlendert an den Sitzreihen entlang, begutachtet die Männer, man hört, wie das Paar auf der Leinwand, ein Mann und eine Frau, stöhnt. Man sieht diese pornografische Szene erst, als die Tunte vor der Leinwand ankommt und einen Schatten auf die Frau wirft. Später wird sie sich zu einem der Männer setzen und dann zu einem anderen, sie wird Sex mit ihnen haben, dafür Geld nehmen oder auch nicht. Andere Tunten tun es ihr gleich, manchmal werden sich auch die Männer im Publikum untereinander einig. In einer herkömmlichen Erzählung wären sie deswegen bedauernswerte Geschöpfe – Klemmschwule, die sich und ihren Familien eine bürgerliche Existenz vorspielen und in der Heimlichkeit des Pornokinos ihren wahren Gelüsten nachgehen. In „La chatte à deux têtes“ fragt man sich, ob es so etwas wie „wahre Gelüste“ überhaupt gibt.

Dabei bewahrt Nolots Kino die Erinnerung an eine Zeit, als eine repressive, intolerante Gesellschaft besondere Formen schwuler Dramen und Spektakel hervorbrachte. Diese Zeit ist vorbei, und viele Erzählungen – filmische wie gesellschaftliche – wollen sie vergessen machen. Man ist stolz, schwul zu sein, und kann es, zumindest in der Mitte der Gesellschaft, sein, ohne dafür Diskriminierung in Kauf zu nehmen. Nolot ist von diesem Auftrumpfen weit entfernt, er interessiert sich noch immer für das Scheitern, das Schäbige, das Nichtakzeptierte, und zwar aus der Einsicht heraus, dass all dies zum Leben dazugehört.

In Lissabon stellt sich der Regisseur, im locker sitzenden Anzug wie sein Alter Ego in den Filmen, vor sein Publikum. Er spricht vom „fragilen Rektum“ der Männer, die sich gegen Analsex sperren, und vom „sensiblen Rektum“ derer, die sich darauf einlassen. Das muss ihm erst mal einer nachmachen.

■ Leider sind Nolots Regiearbeiten nur eingeschränkt zugänglich. In der Berliner Videothek Videodrom kann man „La chatte à deux têtes“ ausleihen (www.videodrom.com); über www.amazon.fr kann man „Avant que j’oublie“ beziehen