Das Feindbild der Anderen

NAHER OSTEN Der Dokumentarfilm „Das Herz von Jenin“ erzählt die Geschichte eines Palästinensers, der die Organe seines getöteten Sohns an israelische Kinder spendet

Ismael Khatibs Geste steht im Widerspruch zum Feindbild, das viele Israelis von den Palästinensern haben. Sie widerspricht aber auch der Verehrung des getöteten Sohns als Märtyrer

VON ULRICH GUTMAIR

Die Operation ist vorbei. Ein Pfleger spricht mit dem Vater. Er hat die schwere Aufgabe, dem Vater zu erklären, dass sein Sohn nicht gerettet werden konnte. Der Körper kann zwar noch eine Weile am Leben erhalten werden, das Gehirn aber ist tot. In diesem Moment großen Schmerzes seines Gegenübers muss der Pfleger aber noch etwas anderes tun: dem schockierten Vater erklären, dass der Tod seines Sohnes ein Hoffnungsschimmer für einige andere Kinder ist, die auf eine Organspende warten.

Solche Situationen haben immer eine tragische Dimension. Die Tragweite der väterlichen Entscheidung wird in diesem Fall noch durch die äußeren Umstände gesteigert, und sie sind der Grund, warum der Dokumentarfilm „Das Herz von Jenin“ von Marcus Vetter und Leon Geller überhaupt gedreht worden ist. Denn der Pfleger ist Araber, er arbeitet in der Rambam-Klinik der israelischen Stadt Haifa. Auch der Vater des Kindes ist Araber. Ismael Khatib lebt auf dem Territorium der Palästinensischen Autonomiebehörde im Flüchtlingslager bei Jenin, das durch ein Massaker der israelischen Armee zu weltweiter fragwürdiger Berühmtheit kam. Als sich herausstellte, dass es zwar massive Zerstörungen und einige Tote, aber kein Massaker gegeben hatte, hörte schon niemand mehr zu. „Das Herz von Jenin“ zeigt, unvermittelt und mittendrin, die Bilder der planierten Zone in Jenin, wo einmal Häuser standen, im didaktischen Versuch, den größeren Kontext, das Ausmaß der Zerstörung zu verdeutlichen.

Dramatische Größe bekommt die Geschichte durch die näheren Umstände: Erstens ist der zwölfjährige Ahmed Khatib auf der Straße bei einer Razzia gegen den palästinensischen Widerstand durch die Kugel eines israelischen Soldaten gestorben. Er trug ein Spielzeuggewehr bei sich, das die Soldaten für eine Kalaschnikow hielten. Zweitens befindet sich unter den sechs israelischen Kindern, die Organe des toten Jungen erhalten, auch ein jüdisches Mädchen. Drittens lauerten die Kamerateams der Fernsehteams ihrer orthodoxen jüdischen Familie auf dem Krankenhausflur auf. Da sitzt der Vater, wie in Trance, seine Tochter wird eben operiert, er weiß nicht, wer der Spender ist.

Die Story ist zu gut, der Reporter fragt: „Würde es einen Unterschied machen, ob der Spender Jude oder Araber ist?“ Der Vater antwortet: „Mir wäre es natürlich lieber, wenn er Jude wäre.“

Der Imam von Jenin hat keine Einwände gegen diese Spende, auch nicht der Chef der militanten Al-Aksa-Brigaden im Lager: „Du spendest einem Menschen, keinem Juden.“ Das denkt auch Ismael Khatib: „Kinder können keine Feinde sein, Kinder tragen keine Schuld.“ Er ist sicher, dass vielen Israelis ein Palästinenser lieber ist, der sich in die Luft sprengt, als einer, der Organe an israelische Kinder spendet.

Die Geste Ismael Khatibs steht im Widerspruch zum Feindbild, das viele Israelis, auch der Vater von Menuha Levinson, von den Palästinensern haben. Letzterer versteht nicht, warum sich Araber auf Israels Straßen frei bewegen dürfen, während Juden sich nicht in die Palästinensergebiete trauen dürften. Dort würde man als Jude sofort ermordet.

Die Großzügigkeit von Ismaels Familie widerspricht aber auch der Vereinnahmung des getöteten Sohns durchs nationale Kollektiv, das Ahmed, den Jungen mit der Spielzeugkalaschnikow, als Märtyrer verehrt, dessen Tod durch den von hundert Feinden gerächt werden soll.

Zwei Jahre nach der Organspende reist Ismael mit Onkel Mustafa, der ebenfalls Israeli ist, durchs Land. Sie treffen das drusische Mädchen im Norden Israels, das nun mit Ahmeds Herz ausgestattet lebt. Sie besuchen die Beduinenfamilie, deren Sohn Ahmeds Niere erhalten hat. Und schließlich sitzen sie bei den Levinsons. Die kleine Menuha weiß genau, wer der fremde Mann ist: „Das ist der Vater des Jungen!“ Später im Auto sagt Onkel Mustafa: „In Menuha wohnt ein großes Geheimnis. Sie wird uns nie besuchen können, denn sie wird dazu erzogen, die Araber zu hassen.“

Die Leute vor den Kameras sind nicht anders als jene vor den Fernsehschirmen. Sie sind sich ihrer eigenen Werte bewusst, aber sie haben den Verdacht, dass die anderen sie nicht teilen. Größe zeigt, wer trotzdem gemäß der eigenen Werte handelt.

■ „Das Herz von Jenin“. Regie: Leon Geller und Marcus Vetter. Deutschland 2008, 89 Minuten