Gleich kommen die Panzer

WENDE Warten auf den großen Wendefilm? Vielleicht einfach mal Thomas Heises Werke anschauen. Aus deren Resten hat er „Material“ geschnitten

Seit zwanzig Jahren wartet Deutschland auf den großen Wenderoman. Die außerordentlichen Geschehnisse von 1989/90 verlangen nach einem außerordentlichen Werk. Leider enden die meisten Versuche, der Wende künstlerisch gerecht zu werden, mit einem ganz normalen Werk, normal wie der Alltag im wiedervereinigten Deutschland.

Unbeachtet bleibt dabei, dass es schon eine ganze Reihe relevanter Beiträge gibt, die einer auf Größe fixierten Öffentlichkeit allerdings entgehen müssen. Der Dokumentarfilmer Thomas Heise hat 1989 „Imbiss spezial“ gedreht, eine kleine Beobachtung an einem Würstelstand am Alexanderplatz, kurz vor dem 40. Jahrestag der DDR. Die Leute erleben gerade eine Revolution, aber sie merken es nicht so recht. Die Vorstellung, dass es immer Barrikaden braucht, auf die man steigen kann, wird eben erst widerlegt.

Für das Fernsehen kam die Wende mit dem Fall der Mauer. Für Thomas Heise begann sie viel früher, und es war auch nach 1989 nicht sicher, ob sie kommen würde. Immerhin konnte er, der in der DDR die Behörden gegen sich aufgebracht hatte, in den Neunzigern wieder drehen. Mit „Stau – Jetzt geht’s los“, dem Porträt einer Familie in Halle-Neustadt, wurde er zum Chronisten des Rechtsradikalismus. Das Etikett ist ihm geblieben, dabei ist sein Werk viel reicher und bekommt mit „Material“ eine neue Dimension. Der fast dreistündige Film besteht im Grunde aus Resten. Heise hat Material, das er vor und nach 1989 gedreht und bisher nicht verwendet hat, in eine persönliche Ordnung gebracht. Er schreibt damit aber auch die Geschichte dieses Jahres, in einem tatsächlich historiografischen Sinn.

Er wählt nur nicht die Darstellungsform einer großen Erzählung und sucht nicht nach dem berühmten Faden durch das Chaos der Dinge. Er belässt die Dinge so, wie sie ein Leben prägen – also manchmal zufällig, manchmal notwendig, das Wichtige neben dem Unwichtigen, das bedeutende Detail neben dem, das nur einem Menschen etwas bedeutet. Die Wende ist in vollem Gang, da tritt eine Frau von einem Institut für physikalische Chemie vor eine Menge und möchte den Standpunkt ihrer Abteilung kundtun. Sie spricht ihr Funktionärsdeutsch viel zu schnell und unterbricht sich mit einer Entschuldigung. „Die Zeit ist so schnell.“

Für Heise kann das nicht anders gewesen sein, aber er nimmt bewusst Tempo heraus. Er geht an Orte, an denen die Zeit zäh vergeht, wie in einer DDR-Strafvollzugsanstalt oder in die Volksvertretungen, in denen endlos geredet wird. Zwischen den Sätzen werden persönliche Schicksale zermahlen. Einer sagt: „Gleich kommen die Panzer.“ Aber die Panzer kamen nicht. Es kam die Wende. Den großen Wendefilm wird es nicht geben, das Material dazu ist ohnehin viel wichtiger.

BERT REBHANDL

■ „Material“. R.: Thomas Heise, Deutschland 2009, 166 Min. Central, täglich 18.45 Uhr