Subjektives Sicherheitsempfinden
Nicht gehen wie ein Opfer

Furcht vor Gewalt hängt davon ab, wie man die eigene Verletz- lichkeit einschätzt. Der Kampf der Senioren gegen die Angst
KRIMINALITÄT Die Zahl der Straftaten nimmt ab, aber die Furcht bleibt – gerade unter den Alten. Weil sie wehrhaft sein wollen, draußen auf der Straße, in einer Welt, die ihnen bedrohlich scheint, belegen sie Selbstverteidigungskurse. Ein Besuch beim Roten Kreuz in Hamburg-Barmbek

VON FRIEDERIKE GRÄFF

Es ist ein bisschen wie in einer Schulklasse, die Gymnastik übt. Die Männer machen Witze, die Frauen wollen, dass der Lehrer sie lobt. Man würde annehmen, dass die fünf, sechs Menschen in den bequemen Stoffhosen an diesem Mittwochnachmittag bloß ihre Muskeln kräftigen und ihre Gelenke beweglich halten wollen – wäre nicht so oft von „ihm“ die Rede, dem potenziellen Täter. Denn tatsächlich sind sie hierher gekommen, weil sie wehrhaft sein wollen: Falls „er“ sie einmal bedroht.

Harry Gerckens hat 25 Jahre Arbeitslehre, Sport und Geschichte an einer Gesamtschule unterrichtet, er ist mehrfacher Meister im Judo und vermeidet überflüssige Worte. „Wenn Sie in der Zeitung lesen, dass schon wieder jemand überfallen wurde“, sagt er, „fühlen Sie sich alt und klein“. Damit trifft er in einem Satz sehr genau, wozu der periodische Sicherheitsbericht der Bundesregierung so viel länger braucht: dass die Furcht vor Kriminalität nicht unbedingt davon abhängt, wie groß das eigene Risiko ist, Opfer zu werden. Sondern davon, wie man die eigene Verletzlichkeit einschätzt und wie die erwarteten Schäden. Deshalb, so der Bericht, würden ältere Menschen zwar seltener Opfer von Kriminalität als jüngere. Aber sie äußerten mehr Furcht und zeigten deutlich ausgeprägter das, was man Vorsichts- und Vermeidungsverhalten nennt.

Angreifer und Verteidiger

Wenn dann die Zeitungen immer häufiger über Straftaten berichten, dann muss nicht unbedingt auch gefährdet sein, wer sich Sorgen macht. Die Damen und Herren im Mehrzwecksaal des Roten Kreuzes in Hamburg-Barmbek sprechen in der Pause über einen Prozess, von dem sie gerade gelesen haben, dann stellen sie sich wieder zu zweit auf und üben. Sie verdrehen die Fußgelenke, sie nehmen Hanteln in die Hände und stoßen die Arme nach vorne. Dann teilen sie sich in Angreifer und Verteidiger: Einer schlägt dem anderen leicht auf den Arm, der andere umklammert ihn und bringt ihn zu Fall. „Nicht so fest“, ermahnt eine Frau ihren Ehemann, sie selbst tippt ihn nur ganz vorsichtig an. „Tritt mal zu!“, sagen zwei Männer ermutigend, die dabei zusehen.

Einige von ihnen haben früher Kampfsport betrieben: Einer hat gerungen, einer machte Judo und ein anderer Karate. „Das ist alles lange her“, sagt Harry Gerckens, und von außen lassen sich die ehemaligen Kampfsportler auch nicht erkennen. „Das Wichtigste ist die Körpersprache“, sagt Gerckens und rät seinen Schülern, einem Kampf nach Möglichkeit aus dem Weg zu gehen. Deswegen versteht er auch nicht, warum der alte Mann in der Münchener U-Bahn, der von zwei Jugendlichen schwerst verletzt wurde, sich überhaupt auf eine Auseinandersetzung einließ. „Wegen Rauchen – das lohnt sich doch nicht“, sagt Gerckens. Und: „Sein Fehler war es, ihnen den Rücken zuzudrehen.“

„Jetzt wo die Kriminalität zunimmt, muss man jede Minute damit rechnen, Opfer zu werden“, sagt ein freundlicher 80-Jähriger, einer von denen, die früher Kampfsport gemacht haben. Wer will, kann in den Statistiken nachlesen, dass die Rate bei den meisten Verbrechen abnimmt – aber wer liest schon die Statistiken und was kümmern sich die Medien darum? Der alte Herr sagt, dass es ein Restrisiko von 35 Prozent gebe, Opfer zu werden. Und dass man da ja nicht dazugehören müsse. „Manche werden immer zu Opfern“, sagt er, „sie gehen wie Opfer“. „Ja“, sagt eine 72-Jährige, die bei den Übungen oft so energisch vorgeht, dass Gerckens sie ein wenig bremst. „Man muss gerade und aufrecht gehen.“

Trotzdem ist sie selbst schon einmal Opfer gewesen, zumindest sieht sie es so. „Ich wurde in der S-Bahn angegriffen“, sagt sie. „Dabei habe ich nur zu vier ausländischen Jugendlichen gesagt, dass sie Gäste hier seien und sich entsprechend betragen sollen.“ Daraufhin hätten diese sie bespuckt und „gemeine Ausdrücke“ benutzt. Eigentlich versteht sie immer noch nicht, was da eigentlich passiert ist: „Ich habe das ganz höflich gesagt.“

„Das muss sitzen“

Der alte Herr ist einmal in eine Schlägerei geraten mit zwei Männern, die es ihm übel nahmen, dass er zwei Kolleginnen an seiner Seite hatte und sie selbst gar keine Frau. Er konnte beide in Schach halten, aber das ist eine ganze Weile her. „Heute muss man sehen, dass man wegkommt“, sagt er. Überhaupt habe sich einiges verändert, zum Schlechteren. Früher habe man aufgehört zu schlagen, wenn der andere am Boden lag. Und früher, als er Kind war, sei einem alle halbe Stunde ein Polizist begegnet. Um halb neun abends habe er dann gesagt: „Kinder, müsst ihr nicht ins Bett?“ Wenn man heute im Notfall bei der Polizei anriefe, dann heiße es: „Warten Sie, wir haben gerade keinen Wagen.“

Wenn es also zum Kampf kommen sollte, was tun? „Das muss sitzen“, sagt Harry Gerckens. „Wenn man nur ein bisschen macht, bringt das den Angreifer nur noch mehr auf.“ Die meisten Kämpfe würden auf dem Boden entschieden, auch die Würgegriffe funktionierten auf dem Boden besser. Allerdings kämen die alten Leute kämen zum Teil nicht mehr hoch. Deswegen übt Gerckens mit seinen Schülern das Wegstoßen, das Zu-Fall-Bringen. Und das Schreien, das auch nicht jeder auf Anhieb kann. „Das ist doch nur ein Piepsen“, knurrt er eine Frau an. „Ich üb’ es zu Hause“, antwortet sie.

Einige der Kursteilnehmer sind alleinstehend. So ist das Training auch so etwas wie ein sozialer Treff und vermutlich heiterer als das übliche Einerlei im Sportverein. Dass Furcht eine der Grundlagen für das Zusammensein ist, vergisst man darüber leicht. Diese Furcht, so wenig rational sie in manchem sein mag, beschäftigt durchaus auch die Politik. Im Guten, wenn sie darüber nachdenken, dass das Sicherheitsgefühl im öffentlichen Nahverkehr wesentlich dafür ist, dass er genutzt wird – und nicht tatsächlich zum unsicheren Ort wird, wenn zu viele ihn aus Furcht meiden. Im Schlechten, wenn Politiker bloß nach drakonischen Strafen rufen – im Wissen, dass die kaum helfen.

Die Deutschen, die den Begriff „Angst“ exportiert haben und lange Jahre im europäischen Vergleich die höchsten Werte bei der Kriminalitätsfurcht erzielten, sind zurzeit Vorletzte auf dieser Skala. Warum laut einer Erhebung aus dem Jahr 2004 nur noch 14 Prozent der Befragten Kriminalität als eines der beiden drängendsten Probleme nannten, weiß niemand so genau. Vielleicht gibt es nur ein gewisses Gesamtmaß an Furcht, zu dem Menschen fähig sind – und das ist gerade von Angst vor Altersarmut und sozialem Abstieg besetzt, wer weiß.

Fühlt sich der 80-Jährige wehrhaft? „Ja“, sagt er erst. „Das heißt“, fährt er fort, „das Mutigste ist, wegzulaufen“.