Es fährt ein Zug nach Anderswo

EPISODENFILM Mit „Das wahre Leben ist anderswo“ erforscht der Schweizer Regisseur Frédéric Choffat, was zwischen Aufbruch und Ankunft geschieht

Dass Reisen und Sich-Verlieben eng miteinander verwandt sind und dass sich der Sommer am besten dafür eignet, dürfte bekannt sein. Komisch auch, dass man sofort meint, der sehnsüchtige kleine Film „Das wahre Leben ist anderswo“ des Schweizer Regisseurs Frédéric Choffat spiele im Sommer. Das kommt vielleicht noch aus einer Zeit, in der man vor allem im Sommer reiste und Billigfliegen noch nicht erfunden war.

„Das wahre Leben ist anderswo“ erzählt von drei Zugreisen, die alle am Bahnhof in Genf beginnen. Ein Mann (Dorian Rossel) fährt nach Berlin, um seinen Sohn, den neuen Erdenbürger, kennen zu lernen; eine junge Italienerin (Antonela Vitali) verlässt die Schweiz, um nach Neapel zu ziehen, eine Frau (Sandra Amodio) fährt nach Marseille, um auf einer Konferenz ein Projekt, an dem sie Jahre gearbeitet hat, vorzustellen. Die Reisenden sind um die 30 und auf dem Weg in ein neues Leben; der Film ist mit geringem Aufwand, oft mit der Handkamera, gedreht, was manchmal, auch wegen der improvisierten Dialoge, an Dogma-Filme denken lässt. Vor allem ist es angenehm, dass vieles im Halbdunkel spielt. Der Titel, ein Rimbaud-Zitat, ist sehr passend, beschreibt er doch die Entfernung und die Nichteinholbarkeit des wahren Lebens. Das wahre Leben ist nicht hier und nicht dort, sondern immer schon woanders, auf Reisen.

Der Andere, dem man auf der Reise begegnet, repräsentiert sowohl die eigenen Zweifel an dem neuen Leben, in das man zu reisen im Begriff ist, als auch die Sehnsucht danach, in diesem Zwischenraum von Nicht-mehr und Noch-nicht zu bleiben. Am deutlichsten wird das in der Geschichte von dem Mann, der Hals über Kopf in einen Zug Richtung Deutschland springt, weil seine Freundin in Berlin gerade ein Kind zur Welt gebracht hat. In der Eile hat er übersehen, dass der Zug nur bis Dortmund fährt. Es ist Nacht, und es gibt keinen Anschlusszug mehr. Auf dem wunderbar tristen Dortmunder Bahnhof lernt er eine Tschechin (Jasna Kohoutova) kennen, die auf dem Weg nach Rumänien ist. Sie begegnen ihrer Anspannung mit Mutproben – über die Gleise Rennen, vor Bahnbeamten flüchten – und haben dann Sex miteinander.

In einer anderen Geschichte begegnet eine Wissenschaftlerin auf dem Weg nach Marseille einem Mann (Vicent Bonillo) ohne Geld und Fahrkarte. Er erzählt ihr, wie er in der Nacht zuvor alles verloren hat. Die Frau bezahlt seine Fahrkarte, teilt mit ihm ein Taxi in ihr Hotel. Weil das Hotel ausgebucht ist, lädt sie ihn in ihr Zimmer ein. Aus Angst davor, bei ihrem Vortrag zu versagen, bricht sie zusammen. Er versucht ihr zu helfen. Sie weiß selber nicht, ob ihr seine Nähe willkommen oder doch eher unerträglich ist.

Am anrührendsten ist die Begegnung zwischen einer Italienerin, die kurz davor ist, nach Neapel zu ziehen, und einem etwas linkischen, junggesellenhaften Zugbegleiter (Roberto Molo) aus Norditalien. Aus Angst davor, sie könne von Banditen überfallen werden, verlegt er seinen Arbeitsplatz in ihr Abteil. Er begreift nicht, wieso sie aus der geordneten Schweiz nach Neapel ziehen möchte; sie erzählt ihm, wie sie als Gastarbeiterkind in der Schweiz aufgewachsen ist, ohne je eine vollwertige Staatsbürgerschaft zu bekommen. Die einzelnen Episoden beschreiben unterschiedliche Formen plötzlicher Nähe; am nächsten kommen sich der Zugbegleiter und die Italienerin, vielleicht auch, weil sie einander nicht berühren.

Der Film stimmt recht wehmütig, unter anderem auch, weil er in einer Zeit gedreht wurde, in der man im Zug noch rauchen durfte. DETLEF KUHLBRODT

■ „Das wahre Leben ist anderswo“ („La vraie vie est ailleurs“). Regie: Frédéric Choffat. Mit Jasna Kohoutova, Sandra Amodio u. a. Schweiz 2006, 84 Min., im fsk-Kino