Mülheim an der Ruhr wird Rom

URAUFFÜHRUNG René Pollesch inszenierte „Cinecittà Aperta“, den zweiten Teil seiner „Ruhrtrilogie“

Die Krise scheint Polleschs Dauerthema, der Kritik der totalen Ökonomisierung der Verhältnisse zusätzlichen, erfrischenden Rückenwind zu verleihen

VON REGINE MÜLLER

„Sie haben hoffentlich keine Stöckelschuhe an?“, heißt es am Eingang zum Mülheimer Ringlokschuppen, „denn der Weg wird ein bisschen holperig“, erklärt das Einlasspersonal. In der Tat: Mehr als zehn Minuten geht es über Schotter und löchrige Pisten durch ein Gewerbe-Ödland, vorbei an verlassenen Lagerhallen, Rohbauten und Ruinen, bis man endlich vor einer riesigen Brache steht, auf der ein einsames Zelt winkt. Kein geschlossenes Zelt, sondern eher eine Überdachung, unter der das Publikum auf weißen Plastikstühlen sitzen wird. Verloren steht eine kleine mit Glühlampen tapezierte Wagenbühne in der Gegend, ein paar Caravans parken verstreut, und in der Ferne erheben sich ein paar angedeutete Filmkulissen. Eine trostlose Gegend, ein Unort.

Nachdem Bühnenbildner Bert Neumann im letzten Jahr für René Polleschs „Das Tal der fliegenden Messer“, den ersten Teil seiner „Ruhrtrilogie“, eine schnuckelige Wagenburg am pittoresken Ufer der Ruhr in der Stadtmitte aufgebaut hat, ist das Setting für den zweiten Teil nun merklich unkomfortabler. Auch und vor allem für die Schauspieler, denn die müssen auf der Jagd über Stock und Stein, zwischen Wohnwagen und Kulissenhäusern auf dieser Naturbühne der besonderen Art große Distanzen zurücklegen und diese stellenweise stimmlich unverstärkt überwinden.

Für den lückenlosen Nachvollzug des Geschehens, das sich häufig auch in die Caravans verlagert, sorgen dann aber ein Tross von flinken Typen, die mit den Mikrofonen den Ton angeln, und die obligatorische Videoleinwand, auf der die flüchtigen Bilder mal nostalgisch schwarzweiß, mal farbig flimmern. Die Videospielerei ist jedoch diesmal nicht bloß systemkritisches Stilmittel, sondern integraler Bestandteil des neuen Stücks. Denn mit „Cinecittà Aperta“ beschwört der Autor und Regisseur René Pollesch die Aura der legendären Cinecittà-Filmstudios bei Rom. Fellini, Luchino Visconti und Roberto Rossellini drehten weiland dort und ihre Namen tauchen bei Pollesch immer wieder auf. Die Schauspieler spielen Schauspieler, und wie es Brauch ist bei Pollesch, gibt es eine Handlung im traditionellen Sinne natürlich nicht. Die Textmassen verteilen sich auf drei Schauspielerinnen und zwei Schauspieler, die zwar im Programmheft unter Rollennamen aufgeführt sind, tatsächlich aber munter die Rollen, Identitäten und Geschlechter tauschen. Angeblich soll ein Film gedreht werden, aber man weiß nicht genau, ob überhaupt und vor allem was für ein Film es denn werden soll. Catrin Striebeck als „Pauline Boetzke“, tief dekolletiert mit toupierter Mähne à la Anita Ekberg, sucht hektisch nach dem Trevi-Brunnen und träumt von einem Remake von Fellinis „La dolce vita“. Dann aber ist von „Rote Erde“ die Rede, einer Ruhrgebiets-Bergarbeiter-Saga, die Klaus Emmerich in den Achtzigerjahren für die ARD verfilmte – und in der es tatsächliche eine Pauline Boetzkes-Kruska gab. An welchem Film tatsächlich gearbeitet wird, wird im Laufe der folgenden knapp 90 Minuten nie geklärt, aber trotzdem herrscht professionelle Filmset-Betriebsamkeit auf dem Gelände. Kamera- und Tonleute hetzen herum und umschwirren die Schauspieler, ein Polizeiwagen kurvt umher, ein alter BMW wirbelt Staub auf.

Der italienische Neorealismus erweist sich als treffliche Folie für Polleschs berüchtigtes Hochgeschwindigkeitstextgewitter, das inzwischen noch spürbar Fahrt aufgenommen hat. Die Krise scheint Polleschs Dauerthema, der Kritik der totalen Ökonomisierung der Verhältnisse zusätzlichen, erfrischenden Rückenwind zu verleihen. Knatterten im ersten Teil der Ruhrtrilogie die mäandernden Endlossätze seiner Textgirlanden noch beliebiger, manierierter und deutlich unfertiger, haben sie jetzt mehr Biss, Witz und diskursive Spannung. „Cinecittà“ ist ein idealer Ort für Kapitalismuskritik.