Natürliches Wachstum

NATUR UND URBANITÄT Das diesjährige Festival „48 Stunden Neukölln“ steht unter dem Motto „Humus Neukölln“. Auf Grünflächen und in Schrebergärten sprießen Videos und Installationen aus dem Boden

Es sind die außergewöhnlichen Orte und Blickwinkel, die das Festival besonders machen

VON JESSICA ZELLER

Frauen zwitschern im Chor, ein Mann macht unwahrscheinliche Knacklaute mit der Zunge, aus einer anderen Ecke fiept es, dann hört man ein lautes, hysterisches Gackern: Der PerformanceChor für Experimentellen Gesang unter der Leitung von Rebekka Uhlig schafft es, die Zuhörer zu verzaubern und gleichzeitig zu verwirren: War das eben ein Specht oder doch ein Tenor? Ist das nun Tonband oder Stimmband?

Dadurch, dass man die Sängerinnen und Sänger nicht sieht, sie stehen auf der Empore des Museums Neukölln, braucht man nicht einmal die Augen schließen, um ihre Existenz zu vergessen und ganz in sich zu kehren, inmitten des Trubels einer Pressekonferenz. Wie der Chor die Genezareth-Kirche an der Schillerpromenade am Samstagabend bespielen wird, man darf gespannt sein. Der Auftritt wird sicher einer der Höhepunkte des 11. Kunst- und Kulturfestivals „48 Stunden Neukölln“ sein, das heute Abend um 19 Uhr in der „Alten Post“ in der Karl-Marx-Straße eröffnet wird und bis Sonntagabend andauert.

„Humus Neukölln“ heißt das diesjährige Motto und stellt die Beziehungen zwischen Mensch, Natur und Stadt in den Mittelpunkt. In der „Alten Post“ finden dazu gleich zwei Ausstellungen statt: Im Erdgeschoss die von Festivalleiter Martin Steffens kuratierte Schau MAnATURE und im Obergeschoss die Ausstellung NATurBAN unter der Projektleitung von María Linares. In Steffens Projekt dominieren dabei künstlerisch individuelle Reflexionen über das Verhältnis des urbanen Menschen in der Natur, die oft auch aus dem Ausstellungsraum heraustreten. So wird Florian Rexrodt am Wochenende die Bäume der Karl-Marx-Straße vor einem weißen Hintergrund und einem weißen Boden fotografieren. Im Ergebnis sehen sie aus wie verlorene, museale Geschöpfe einer längst vergangenen Welt, was Fotos aus vergangenen Aktionen verdeutlichen. Bei den Künstlerinnen und Künstlern, die Linares eingeladen hat, ist das Publikum mehr zum Mitmachen eingeladen. Unter Anleitung von Martina Becker kann man aus Verpackungsmaterial, Pappe und Draht Neuköllner „Pflanzen“ basteln, und die Schweizerin Simone Zaugg lässt die Besucher die „Gipfel“ einer hohen Leiter besteigen. Dort oben kann man die Künstlerin dann jodeln hören.

Die dritte Schau zum Leitthema findet unter dem Titel „Der geheime Garten“ im Turm der ehemaligen Kindl-Brauerei in der Werbellinstraße statt, dessen Räume als Ateliers seit kurzem zwischenvermietet werden. Glaubt man der privaten Eigentümergesellschaft HEAG, entsteht hier demnächst ein „Art Center“. Momentan ist es jedoch weniger die Kunst, obwohl auch ganz ansehnlich, als das alte Fabrikgebäude und der geniale Ausblick, die wirklich sehenswert sind. Wer schwindelfrei ist, sollte sich auf jeden Fall bis ins oberste Stockwerk vorwagen!

Kunst im Gartenhäuschen

Doch wie jedes Jahr finden 48 Stunden Neukölln nicht nur in Gebäuden, sondern auch auf den Straßen und Plätzen und dieses Jahr – passend zum Humus-Thema – vor allem auf den Grünflächen und in den Schrebergärten des Bezirks statt. Neben der Hasenheide, dem Körnerpark und dem St.-Thomas-Friedhof in der Hermannstraße wird die Kleingartenanlage „Hand in Hand“ zum Ausstellungsraum umfunktioniert. Die 33 Parzellen im Nordneuköllner Reuterkiez befinden sich in unmittelbarer Nachbarschaft zur Rütli-Schule. Auf Planerdeutsch: im Schulerweiterungsgebiet.

Und darin liegt auch ihr Problem. Denn im nächsten Jahr sollen hier die Bauarbeiten beginnen. Aus der Rütli-Schule wird der Rütli-Campus. Die Kündigung für Ende November haben die Hobbygärtner schon bekommen, jetzt heißt es kämpfen – für eine längere Duldung, bevor hier die Bagger ankommen, für ein bis zwei Apfelbaumernten. Dabei kann ein bisschen kunst- und kulturinteressierte Öffentlichkeit bestimmt nicht schaden. Wo sonst Zäune und zentimetergenau geschnittene Hecken den Blick versperren, ist man nun eingeladen, den Rasen und die Gartenhäuschen zu betreten, um sich Performances, Videoinstallationen oder eine Ausstellung zur Geschichte der Kolonie anzuschauen.

1.000 Akteure

Es sind neben der Tatsache, dass der „Problembezirk“ zumindest zeitweise in einem anderen Licht erscheint, sicherlich diese außergewöhnlichen Orte und Blickwinkel und weniger der Versuch, „große Kunst“ zu machen, die 48 Stunden Neukölln jedes Jahr zu einem besonderen Erlebnis machen und dafür gesorgt haben, dass das Festival im vergangenen Jahr mit dem Kulturpreis der Kulturpolitischen Gesellschaft ausgezeichnet wurde.

Sich inmitten dieses mittlerweile enorm dichten Kunst- und Kulturdschungels mit 1.000 Akteuren, in 550 Veranstaltungen an 270 verschiedenen Orten alles oder auch nur einen großen Teil anzuschauen, ist – anders als vor einigen Jahren – unrealistisch. Man hat die Wahl, entweder mit einem vorher genau strukturierten Ort- und Zeitplan loszuziehen oder sich stundenlang treiben zu lassen und spontan zu gucken, wo man landet.

„Im Vergleich zum Vorjahr sind wir um 40 bis 50 Prozent gewachsen“, sagt Festivalleiter Martin Steffens und fügt fast ein bisschen stolz hinzu: „Im letzten Jahr habe ich 48 Projekte oder Veranstaltungen gesehen und kenne nur eine Person, die mehr geschafft hat.“

■ 26. bis 28. Juni an verschiedenen Orten Mehr Infos unter www.48-stunden-neukoelln.de Die Ausstellungen in der „Alten Post“ und in der alten „Kindl-Brauerei“ laufen noch bis zum 12. Juli