Vier Filme für die Ewigkeit

EIN FILMARCHIV IN AFRIKA In den 70er-Jahren prosperierte das Kino in Mosambik – vor allem als Propagandainstrument der sozialistischen Machthaber, aber auch als Medium der Alltagsbeschreibung. Heute verrotten die Filme im Nationalen Filminstitut von Maputo

Wenigstens vier Filme will man nach Südafrika schicken, um sie dort digitalisieren zu lassen

AUS MAPUTO OLIVER RAMME

Die Frau am Empfang hat ihren Kopf auf den hellbraunen Holztisch gelegt. Sie hält ihren Mittagsschlaf. Die Eingangshalle bietet einen glanzlosen Anblick. Grauer Steinboden, eine Treppe aus Beton führt in den ersten Stock. An den Wänden hängen hier und dort ein paar Zettel mit Anweisungen. Alles ist weiß getüncht, wo Wasser eingedrungen ist, sind die Mauern gelb oder braun. Drei Gummibäume stehen verwaist hinter der Treppe.

Nichts deutet darauf hin, dass in diesem Gebäude eine der aktivsten Filmproduktionen des südlichen Afrika zu Hause war. Bis zu 250 Kameraleute, Regisseure, Techniker und Redakteure gingen hier ein und aus. Heute herrscht Stille im Nationalen Filminstitut Mosambiks (INC) in Maputo – und das schon seit jenem Tag im Jahre 1991, als ein Blitzschlag ein Feuer im Gebäude auslöste. Die Aufnahmetechnik, die Kameras, die Schneidetische und Dunkelkammern – alles war zerstört. Neuanschaffungen hat es seitdem nicht mehr gegeben. Mosambik hat andere Probleme. Das Land ist bettelarm. Über die Hälfte des Staatshaushalts stammt aus Entwicklungshilfe.

Nicht nur die Stille im Institut ist bedrückend. Gut zwei Dutzend Angestellte sind dem INC geblieben; sie müssen mit ansehen, wie der größte Schatz des Instituts verrottet: tausende von Metern Film, verpackt in 25.000 Filmdosen. Darauf festgehalten sind die ersten Gehversuche einer jungen Nation, die Gründungsjahre eines sozialistischen Staates in Afrika. Eine detaillierte Chronik – ein nahezu einmaliges Filmarchiv in Afrika.

Nach Jahrhunderten der portugiesischen Vorherrschaft erkämpft Mosambik als eines der letzten Länder Afrikas seine Unabhängigkeit. Am 25. Juni 1975 ruft Samora Machel, Führer der Freiheitsbewegung Frelimo, die Volksrepublik Mosambik aus. Machel wird Präsident in einem der ärmsten Länder der Welt. Ein sozialistischer Vorzeigestaat soll daraus werden. „Von nun an gibt es keine Makua, Makonde oder Portugiesen mehr. Von nun an gibt es nur noch Mosambikaner“, wiederholt Machel gebetsmühlenartig auf seinen Reisen durchs Land. Den ehemaligen Kolonialherren passt die sozialistische Gleichschaltung nicht. Die Portugiesen ziehen sich aus Mosambik zurück und hinterlassen in Wirtschaft, Handel und der medizinischen Versorgung große Lücken.

„In ganz Mosambik gab es keine 40 Ärzte mehr. Die Not war groß. Trotzdem war eine der ersten Amtshandlungen der neuen Regierung, das Nationale Filminstitut zu gründen“, wundert sich Pedro Pimenta noch heute. Er gehört im November 1975 zu den ersten Angestellten des Instituts. Die Frelimo formuliert den Anspruch des INC in ausgesprochen kämpferischen Worten: Es „soll den Mosambikanern ein klares Bild vom Befreiungskampf und der koloniale Aggression verschaffen“.

Nur wie? Im jungen sozialistischen Staat gibt es nichts, worauf man aufbauen kann, schon gar keine Filmtradition. Von Technik ganz zu schweigen. Leute wie Pimenta stoßen ohne Ausbildung zum Institut. So verlassen sich die neuen Filmemacher auf Bruderhilfe. Die ersten Dokumentarfilme werden von Jugoslawen, Brasilianern und Kubanern gedreht. Parallel erhalten die mosambikanischen Genossen ihre Ausbildung an Kamera, am Schneidetisch und am Mikrofon. Filmen werden sie während der ganzen Zeit vor allem einen: Samora Machel.

Im ersten Stock des INC gibt es mehr Bewegung als in der Empfangshalle. In einem Raum mit großem Fenster sitzen zwei Männer. Der eine trägt einen Mundschutz und ist im Begriff, eine Filmdose aus Blech mit einem Schraubenzieher aufzubrechen. Sie ist verrostet und klemmt. Als sie sich öffnet, kommt eine Rolle zum Vorschein, darum wickelt sich pechschwarzes Filmmaterial. Ein unangenehmer Geruch liegt im Raum, eine Mischung aus Chemie und Süßsaurem. Transpirierendes Polyethylenterephthalat – aus diesem Kunststoff sind die Filme gefertigt. Der Mitarbeiter entstaubt die Rolle, bevor er sie zum Sichten in einen Schneidetisch mit Bildschirm einlegt. Ratternd zieht der Apparat den Filmstreifen ein.

Auf dem Bildschirm sieht man einen Mann in gebügelter Uniform, die Ärmel hochgekrempelt, auf dem Kopf eine Schirmkappe. Er schwingt mit den Armen, die Hände zu Fäusten geballt. Vor ihm ein ganzes Bündel Mikrofone, zusammengehalten mit Klebeband. Auf einer überdachten Tribüne, am Rednerpult stehend, spricht Machel zu tausenden Mosambikanern im Stadion. Er redet, er hält inne, über die Lautsprecher des Schneidetisches dröhnt auf Portugiesisch die Frage „Was ist das Schönste im Leben eines Menschen?“ Das Volk antwortet unentschlossen, er stellt die Frage wieder und wieder, bis er langsam und betont die Antwort des Volkes wiederholt: „Ja, das Höchste im Leben eines Menschen ist die Freiheit!“

„Samora Machel hatte ein ausgeprägtes Gefühl für Kinematografie. Er wusste genau, welche Macht bewegte Bilder auf die Massen ausüben. Er hatte damals das größte Interesse und den mächtigsten Einfluss auf das Institut“, sagt der Chefarchivar des INC, Amilcar Mascarenhas. Von der Macht der Bilder ist Machel schon während des Befreiungskrieges überzeugt. Mitte der 60er-Jahre, gleich nach Beginn der Kämpfe gegen die Portugiesen, lädt die Frelimo gleichgesinnte Filmemacher in den mosambikanischen Busch und lässt den Kampf und die Entbehrungen der Freiheitskämpfer filmen. Im Krieg wie in den ersten Jahren der Unabhängigkeit ist die Leinwand ein Instrument der Propaganda.

Die Wochenschau „Kuxa Kanema“ („Geburt des Bildes“) zeigt neben den Reden des Präsidenten auch den Wiederaufbau des Landes. In Schwarzweiß entladen Heerscharen von Mosambikanern in bloßer Handarbeit einen Laster voller Betonsteine, roden gemeinschaftlich Palmen oder errichten Dächer. Manchmal erinnert die Filmerei an das Telekolleg, vor allem wenn die Wochenschau Lese- und Schreibunterricht auf Dorfplätzen dokumentiert.

Das Ziel, sagt Pimenta, war, „dass die Menschen sich selber sehen konnten. Damit sie sich, ihre Arbeit, ihr Leben besser wertschätzen können. Das Kino hatte also die Aufgabe, die Menschen und ihre Realität widerzuspiegeln – ihnen eine neue Identität zu verschaffen.“ Viele Mosambikaner sehen zu dieser Zeit zum ersten Mal einen Film und sind davon überwältigt. Sie betrachten das Kino als direkte Errungenschaft der Unabhängigkeit.

Bis in den letzten Winkel des Landes soll die Propaganda ihre Wirkung entfalten. Neben den rund 40 Kinosälen, die das INC vor allem in den großen Städten unterhält, verfügt das Institut über mobile Projektoren aus der Sowjetunion. Damit zieht das Institut von Dorf zu Dorf und zeigt auf Marktplätzen Filme. Mosambik wächst nach Südafrika zum zweitgrößten Filmproduzenten im südlichen Afrika heran.

Die Produktionswut lockt Filmemacher wie Jean-Luc Godard oder Jean Rouch ins Land. Während Godard im Auftrag des INC die Möglichkeiten des Fernsehens und der Videotechnik ausloten soll, experimentiert Rouch mit Super-8-Filmen. Er gibt den Leuten Kameras und lässt sie filmen. Die fertigen Kurzfilme werden unter den Dörfern und Städten ausgetauscht. Die Menschen können sehen, wie man anderswo lebt und denkt.

Im Krieg wie in den ersten Jahren der Unabhängigkeit ist die Leinwand ein Instrument der Propaganda

Doch die schöne heile Welt des sozialistischen Aufbaus währt nicht lange. Wieder gibt es Krieg, diesmal gegen das Apartheid-Regime aus Südafrika. Der Kampf bestimmt die Berichterstattung des Filminstituts. Hunderte, tausende von Toten sind in den Wochenschauen zu sehen, dazu zerschossene Gebäude und kaputte Straßen. Doch im Mittelpunkt der Wochenschauen steht die heroische Volksarmee.

In den 80er-Jahren wagen sich die Macher des Instituts neben den Nachrichten- und Dokumentarfilmen auch an Spielfilme. „O Vento sopra do Norte“ („Der Wind bläst aus Norden“) entsteht ohne ausländische Hilfe. Der Film handelt von Stammeskonflikten, Rassismus und der sozialistische Befreiung und lockt in den ersten vier Tagen 8.000 Menschen in die Kinos. Was wohl damit zusammenhängt, dass er 1987 uraufgeführt wurde – anlässlich des 25-jährigen Bestehens der Frelimo. „O Vento sopra do Norte“ ist der letzte Höhepunkt des filmischen Schaffens im INC. Bereits ein Jahr zuvor büßt das Institut seinen glühendsten Förderer ein. 1986 stirbt Machel bei einem Flugzeugabsturz. Seine Nachfolger wollen vom Kino nichts mehr wissen; sie setzen aufs Fernsehen. Auch distanzieren sie sich vom Sozialismus als Staatsziel.

Das Institut gerät in Vergessenheit. Der Brand erledigt den Rest. Die Filmdosen und ihr Inhalt verkommen seitdem. „Mosambik hat für die Rettung der Filme kein Geld“, sagt Mascarenhas. „Seit 2001 haben wir Briefe an alle möglichen Institutionen und Botschaften geschrieben. Mit dem Erfolg, dass uns Portugal und die Unesco seit Anfang des Jahres zwei Techniker stellen und die Kosten für Technik und Material übernehmen.“

Die hohe Luftfeuchtigkeit und die tropischen Temperaturen haben dem Filmmaterial zugesetzt. Die staubige und stinkende Arbeit der Mosambikaner und der zwei Techniker wird wohl noch bis Ende des Jahres dauern. Dann wollen sie alle Bänder gesichtet, in Kunststoffdosen gelegt und in neuen klimatisierten Sälen untergebracht haben. Die fachgerechte Lagerung soll den Zerfallsprozess stoppen.

Wie es danach weitergeht, ist fraglich. Von der Digitalisierung der alten Filme wagt man im Institut nicht zu träumen. Zu teuer, meint Mascarenhas. Wenigstens vier Filme will man nach Südafrika schicken, um sie dort digitalisieren zu lassen. Vier Filme für die Ewigkeit. Die anderen werden wohl nie wieder vorgeführt. Isabel Noronha, eine ehemalige Produzentin, formuliert es so: „Was du gemacht hast, ist zwar nicht zerstört, doch gleichzeitig existiert es nicht mehr.“