Film mit brasilianischen Indianern: "Edle Wilde gibt es nur für Touristen"

Ein Gespräch mit Marco Bechis, Regisseur des Films "Birdwatchers", über echte Indigene, falsche Bilder und die Kraft schweigender Gesichter.

"Sie wussten nicht, welche Kraft die Großaufnahme eines schweigenden Gesichts im Kino haben kann." Bild: pandora filmverleih

taz: Herr Bechis, wie sind Sie auf die Lage der Indianer im brasilianischen Bundesstaat Mato Grosso do Sul aufmerksam geworden?

Marco Bechis: Durch die Organisation Survival International. Ich wollte seit langem einen Film über den Völkermord an den lateinamerikanischen Indianern drehen bzw. über diejenigen, die ihn überlebt haben. Gedacht war das als Kontrapunkt, aber auch als Ergänzung zu den Filmen, die ich über diejenigen gemacht habe, die während der argentinischen Militärdiktatur verschwunden sind. Zunächst hat mich das Amazonas-Gebiet interessiert, wo die Indianer noch unter relativ traditionellen Bedingungen leben. Die Guaraní-Kaiowá in Mato Grosso do Sul hingegen leben in Reservaten in der Nähe der Städte. Man würde sie auf den ersten Blick nicht als Indianer wahrnehmen, sie leben nicht mehr besonders traditionell, sie tragen Kleidung wie du und ich, und der Urwald, ihr Lebensraum, ist kaum noch da.

Wie kamen Sie dazu, mit Laienschauspielern zu arbeiten?

Marco Bechis wurde 1955 in Santiago de Chile geboren und wuchs in Buenos Aires auf. Nach dem Militärputsch von 1976 wurde er inhaftiert und in einem Folterlager festgehalten. Anfang der 80er Jahre konnte er ins Exil nach Mailand gehen, wo er seither lebt. Er nahm ein Filmstudium auf. Seinen ersten Langfilm, "Alambrado", drehte er 1991. In "Garage Olimpo" (dt. Titel: "Junta", 1999) und in "Figli/ Hijos" (2001) setzt er sich mit der argentinischen Militärdiktatur auseinander. "Birdwatchers" lief 2008 im Wettbewerb der Filmfestspiele von Venedig.

Je mehr Guaraní-Kaiowás ich kennen lernte, umso besser begriff ich, dass sie großes schauspielerisches Talent und großes rhetorisches Geschick besitzen. Sie treten sehr entschieden auf. Nach und nach wurde mir klar, dass es ein Fehler wäre, nach indigen aussehenden Schauspielern zu suchen in Bolivien meinetwegen oder in São Paulo. Fast war es so, dass sie mich dazu brachten, den Film zu drehen, und nicht ich sie.

Wie ging das Schauspieler-Werden denn konkret vonstatten?

Es ging zu wie bei einem Schauspielworkshop, den man mit Jugendlichen in Berlin oder Mailand machen könnte, wir haben Techniken eingeübt. Das Einzige, was sie wirklich lernen mussten, war zu schweigen. Sie wussten nicht, welche Kraft die Großaufnahme eines schweigenden Gesichts im Kino haben kann.

Sie haben ihnen Filme gezeigt?

Ja. Wir haben Filme von Hitchcock und Sergio Leone geguckt. Dabei ist ihnen klar geworden, wie ausdrucksstark ein schweigender Clint Eastwood ist. So konnten sie begreifen, wie wichtig Pausen und Blicke sind.

Die Entschiedenheit, von der Sie vorhin sprachen, ist in vielen Szenen des Films zu spüren.

Das Verhältnis zu den professionellen Schauspielern war so, dass die Guaraní-Kaiowás die Szenen beherrschten. Wenn man mit Laien und Profis arbeitet, ist es oft so, dass sich die Profis in den Vordergrund drängen, selbst wenn sie nur eine kleine Rolle haben. Das haben sich die Indigenas nicht bieten lassen. Wir hatten eine lange Vorbereitungszeit, sechs Monate. Ich habe viel von dem, was sie mir erzählt haben, berücksichtigt. Beim Dreh ist vieles umgestoßen worden, was im Buch stand. Es war ein System des Hier und Jetzt, wir brauchten die Möglichkeit, kurzfristig umzudisponieren. Was natürlich nichts ist, was Produktionsfirmen freut - denen ist es aus Kostengründen lieb, wenn alles bis ins Letzte durchgeplant ist.

Wie lange haben Sie denn gedreht?

Zwölf Wochen. Wir haben versucht, den technischen Aufwand gering zu halten, um flexibel bleiben zu können. Es gibt keine aufwändigen Kranfahrten.

Aber Flugaufnahmen.

Schon, aber nicht diese typische Kranbewegung von oben durch die Luft nach unten, keinen amerikanischen Establishing-Shot. Das wäre mir filmsprachlich falsch erschienen, unangemessen. Ich wollte eine ruhige Kamera, feste Einstellungen, ein bisschen wie im Western.

In welcher Sprache haben Sie beim Dreh geredet?

Auf Portugiesisch. Alle sprechen ja Portugiesisch.

Im Film wird oft Guaraní gesprochen. War es für Sie schwierig, bei den entsprechenden Szenen Regie zu führen?

Nein, es gab ja das Drehbuch, und damit war festgelegt, was gesagt wurde, auch wenn die Schauspieler davon immer mal wieder abgewichen sind. Es gab auch einen Übersetzer. Wichtig war, dass die Schauspieler nicht sich selbst spielten. Wie jeder professionelle Schauspieler setzten sie Teile ihrer selbst ein, um ihre Rolle zu gestalten. Sie konnten viel von sich selbst in die Rolle hineinlegen, ohne ganz in ihr aufzugehen, denn sie hatten eine professionelle Distanz zu ihr. Ich mag Filme mit Laiendarstellern oft nicht, und zwar immer dann nicht, wenn ich den Eindruck gewinne, sie werden vom Regisseur benutzt, weil der eine ganz bestimmte Sache von ihnen will - und nur die.

Was ich interessant fand, ist, wie Sie einen militanten Film drehen, ohne auf die Klischees und Formeln des engagierten Kinos zurückzugreifen. Die direkte Botschaft kommt bei Ihnen erst im Abspann.

Man muss zuallererst an den Film denken. Denn der Film muss als Film gut werden. Sobald das Thema an erster und der Film an zweiter Stelle steht, wird es fürchterlich. Das war für mich schon immer elementar - bei "Garage Olimpo" zum Beispiel habe ich sehr viel Wert auf Ambivalenz gelegt. Es gibt so viel lateinamerikanisches Kino, das sich auf die Botschaft verlässt, und das funktioniert einfach nicht.

Die beiden Welten des Films, die der Indianer und die der Landbesitzer, interagieren oft- zum Beispiel Osvaldo, der junge Indianer, der Schamane werden soll, und Maria, die Tochter des Großgrundbesitzers.

Wir denken immer, wir seien neugierig. Wir sind aber, im Vergleich zu den Indigenas, verschwindend wenig neugierig. Die sind viel neugieriger auf uns als wir auf sie! Mir kam es darauf an, diese Neugier zu vermitteln und mich auf ihre Wahrnehmung einzulassen. Als wir in Venedig waren, fuhren wir mit dem Boot durch die Stadt, Ambrósio Vilhava, der Nádio spielt, war dabei. Wir sprachen darüber, dass die Stadt alt sei. Nicht so alt wie die Guaraní, aber doch alt. Er sagte: Sie ist nicht alt, sie ist benutzt. Eine andere Wahrnehmung, und die gilt es zu berücksichtigen.

In der allerersten Szene sieht man die Indigenas mit Pfeil und Bogen am Ufer des Flusses. Kurz darauf merkt man, dass das eine Inszenierung für Touristen ist. Sie führen die Zuschauer an der Nase herum, und Sie machen von vornherein alle Illusionen, es mit guten Wilden im Sinne Rousseaus zu tun zu haben, zunichte.

Das Bild, das man von den Indigenas hat, ist ja oft das: Sie leben zurückgezogen, unberührt. Aber das stimmt ja im Fall der Guaraní-Kaiowá überhaupt nicht. Für mich ist diese Szene auch deshalb wichtig, weil sie meinen eigenen Weg beschreibt: Ich wollte zunächst einen Film über Indianer mit Pfeil und Bogen machen und musste dann merken, dass das ein falsches Bild ist.

Die Unterstützerorganisationen arbeiten aber oft mit genau diesem Bild: edle Wilde, die es in ihrer Unberührtheit zu schützen gilt. Auch Survival International, die Nichtregierungsorganisation, mit der Sie zusammenarbeiten, tut das.

Ja. Und es gab darüber auch Diskussionen. Nicht über den fertigen Film, aber über das Drehbuch. Die Leute von Survival wollten ihre Vorstellungen durchsetzen. Dazu gehörte eine Menge Botschaft, eine Menge Information. Ich musste darauf beharren, dass der Film an erster Stelle steht. Zugleich hat es aber auch etwas Snobistisches, sich über die Nichtregierungsorganisationen erheben zu wollen. Sie erreichen ja etwas, nicht auf dem Feld des Kinos, sondern auf dem der Politik. Wenn in Botswana Buschleute aus ihrem Gebiet vertrieben werden, damit dort Diamanten gefördert werden können, und diese Vertreibung nach einer Kampagne von Survival International per Gerichtsurteil verboten wird, dann ist das doch großartig.

Die Indigenas machen viele Witze, sie haben einen ausgeprägten Humor, vieles ist sexuell aufgeladen.

Ja, das ist so. Für uns mag das verblüffend sein, es mag auch unseren Vorstellungen von Reinheit zuwiderlaufen, aber für sie ist es komplett normal, sich den ganzen Tag über die Größe eines Penis zu unterhalten. Gerade darin zeigt sich ihre Reinheit.

Die Frauen sind sexuell sehr offensiv. Ging es Ihnen darum, sich von dem Klischeebild abzusetzen, dem zufolge der Weiße die Indianerin sexuell missbraucht?

Ja, das ist absichtlich so, diese Klischeebilder sind unerträglich, sie machen jeden Film schlecht. Das führt uns wieder an den Anfang: zuerst muss das Kino kommen, dann die Botschaft.

Manche Szenen unterlegen Sie mit klassischer Musik von Domenico Zipoli. Das wirkt sehr fremd.

Domenico Zipoli war ein Komponist, der in Peru, in den Jesuitenmissionen, mit den Guaraní Musik machte.

Das schafft in der Tat eine enge Verbindung zu Ihrem Film.

Ja, aber um den Kontrapunkt ging es natürlich auch - ich setze die Musik ja nicht in den lyrischen Momenten ein, sondern dann, wenn es gewalttätig wird, wenn die Gruppe der Indianer geschlossen und bewaffnet aus dem Wald tritt zum Beispiel.

Oder wenn die Jungen den blutigen Schenkel einer Kuh die Straße entlangtragen.

Natürlich ging es mir auch um den Hintergrund der Jesuitenmissionen: Das war ja der Versuch, in der Renaissance eine Inklusion herzustellen, die Indianer einzuschließen. Aber dieser Versuch ist gescheitert.

Sie filmen oft die Schatten der Figuren. Warum?

Um eine spirituelle Dimension in den Film zu bringen. Nhanderu, der Geist, der für die Guaraní-Kaiowá wichtig ist, wird als Schatten wahrgenommen.

Im März gab es ein wegweisendes Gerichtsurteil für die Indigenas im Amazonas-Gebiet: Der Oberste Gerichtshof in Brasília entschied, dass die Landwirte das Gebiet Raposa/Serra do Sol verlassen müssen, weil es den Indigenas zusteht. Hat dieses Urteil Konsequenzen für Mato Grosso do Sul?

Sicher, es bestärkt die Leute, sich das Land wieder anzueignen. Es gibt ja ein sehr unterschiedliches Verhältnis zum Land - die Grundbesitzer sagen: Das Land gehört mir. Die Indigenas sagen: Ich bin Teil des Landes. Letzteres hat das Urteil anerkannt. Zugleich darf man nicht vergessen, dass die Lage in Mato Grosso anders ist als im Norden Brasiliens. In Mato Grosso gibt es kaum noch Urwald. Dort werden Gensoja und Zuckerrohr angebaut, um Ethanol für Biotreibstoffe zu gewinnen. Potente Industrien wie Monsanto sind am Werk. Die Indigenas haben also gegen viel mächtigere Gegner zu kämpfen als im Amazonasgebiet.

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