Die inszenierte Naivität

OSTEN Die Ausstellung „Die Gerufenen“ des Zentrums gegen Vertreibungen zeigt, wie lange Deutsche im Osten siedelten – und sie verschweigt so einiges

1812 machte der russische Zar Alexander I. migrationswilligen Süddeutschen ein gutes Angebot. Wer ans Schwarze Meer umsiedelte, sollte seine Religion frei ausüben dürfen und Land bekommen. Tausende nutzten die Gelegenheit. Sie gründeten ziemlich engstirnige pietistische Gemeinden, bauten unweit von Odessa Ansiedlungen, die sie München und Worms tauften, und pflanzten im Südkaukasus deutsche Rebsorten an. Den Wein verkauften sie erfolgreich nach Moskau und Sibirien, wo man ihn zu schätzen wusste.

Diese Geschichte ist, wie viele aus der zivilen Migration westlicher Siedler, die aus Holland, dem Süden oder aus Hessen kamen, eher in Vergessenheit geraten. Die Migrationsbewegung in den Osten begann im Mittelalter. Sie verlief in Phasen. Im 14. Jahrhundert brachte die Pest sie fast zum Erliegen, im 18. Jahrhundert wurde die Migration gen Osten wieder populärer.

Die Deutschen, die oft von Fürsten und Königen angeworben wurden, betätigten sich als freundliche Kolonisatoren. Sie machten sich zu aller Vorteil nützlich, rodeten Wälder, bauten Fabriken, gründeten Städte und machten das Land urbar! So zeigt es jedenfalls die vom Zentrum gegen Vertreibungen organisierte Ausstellung „Die Gerufenen“. Sie macht glauben, dass die deutsche Besiedlung des Ostens eine Art multikultureller Ringelpietz mit Anfassen war. „Die Deutschen“, so die frohe Botschaft der Vertriebenenfunktionärin Erika Steinbach, „kamen nicht mit Feuer und Schwert.“

So war es – allerdings nicht immer. In der Tat entstand die Idee ethnisch gesäuberter Räume erst im 19. Jahrhundert. Doch die Auswanderung ins Baltikum und den Donauraum, die Bukowina und die Karpaten hatte auch zuvor blutige Seiten, von denen man in dieser Ausstellung schlicht nichts erfährt. So massakrierte der vom polnischen König gerufene Deutschorden im Hochmittelalter die baltischen Ureinwohner, die Pruzzen. Später lieferte sich der Deutschorden bei Tannenberg eine furchtbare Schlacht mit der polnisch-litauischen Krone, die im 19. Jahrhundert Stoff für die nationalen Mythologien in Preußen und Polen wurde. In der in freundlichem Grün gehaltenen Ausstellung findet sich davon nur die beschönigende Erläuterung, dass sich im 13. Jahrhundert „deutsche Kaufleute, Ritter und Geistliche im Baltikum niederließen und sich Streitigkeit der ansässigen Völker zunutze machten“. Dafür darf man bäuerlichen Schmuck aus Siebenbürgen bestaunen und erfährt Wissenswertes über den Bergbau in der Slowakei. Aber nichts über ethnische Konflikte, nichts über soziale Kämpfe.

Diese Ausstellung hat etwas Folkloristisches. Sie verströmt eine Harmoniesehnsucht und eine Scheu, die Konflikte darzustellen, die Migrationen eben mit sich bringen. Um den Blick für die Geschichte zu öffnen, müsste man zudem ihre chauvinistische Indienstnahme reflektieren. Deutschnationale hielten im 19. Jahrhundert den Deutschritterorden für einen „Kulturträger gegen das Slawentum“ und die Ostsiedlungen für zivilisatorische Inseln in der „wilden See östlichen Völker“. Hitlers imperialer Wahn knüpfte dort an.

Dass solche Verweise fehlen, ist kein Zufall. Denn diese Ausstellung will nicht bloß informieren. Sie ist ein Instrument des Bundes der Vertriebenen. Schon der Titel ist suggestiv. „Die Gerufenen“ legt nahe, dass die Deutschen erst von slawischen Königen ins Land gelockt wurden, dort über Jahrhunderte ihr segensreiches zivilisatorisches Werk vollbrachten, um dann 1945 undankbarerweise hinausexpediert zu werden.

Die BdV-Chefin Erika Steinbach beteuert, dass die Ausstellung nur aufklären wolle. Viele Deutsche, so Steinbach, glauben, dass die „nach 1945 Vertriebenen mit Hitler kamen und gerechterweise mit ihm gehen mussten“. Woher sie weiß, dass die Bundesbürger Schlesien und Ostpreußen für Hitlers Eroberungen halten, ist unbekannt. Vielleicht hat Steinbach dabei ja eher ihre eigene Familie im Sinn. Diese zog 1941 mit Hitler nach Westpreußen und wurde von dort 1945 hinterhältigerweise von der Roten Armee vertrieben.

STEFAN REINECKE

■ „Die Gerufenen. Deutsches Leben in Mittel- und Osteuropa“. Berlin, Kronprinzenpalais, Unter den Linden. Bis zum 30. August 2009