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Eine Reise zu den Gräbern, ein Tigersprung in die Gegenwart

Als der US-Politiker und -Ökonom Henry George im Jahr 1897 starb, standen rund 100.000 Menschen an seinem Grab im Green-Wood Cemetery von Brooklyn. Sein Buch „Progress and Poverty“, zu dessen zentralen Thesen gehörte, Grund und Boden dürften niemals Privateigentum sein, war viel gelesen, seine Ansichten waren in der Diskussion der Zeit unter dem Namen „Georgism“ ein Begriff. Heute kennt den linken Vordenker Henry George kaum einer mehr.

Sein Grab ist eines von vielen, die John Gianvito für seinen 2007 fertiggestellten Film „Profit Motive and the Whispering Wind“ aufgesucht hat. Seine Dokumentation ist eine Reise zu Gräbern und Tafeln, zu Denkmälern und historischen Stätten der amerikanischen Geschichte; oder genauer gesagt: zur Geschichte des amerikanischen Volkes, denn auf Howard Zinns gleichnamigen Klassiker einer Geschichtsschreibung von links und von unten beruft sich Gianvito im Abspann ausdrücklich. Was der Film aufsucht, sind deshalb historische Orte des Widerstands und der Unterdrückung. In seiner von Zinn inspirierten Spurensuche nimmt er Märtyrer der Gewerkschaftsbewegung, Streiter für die Sklavenbefreiung, Opfer von Massakern an American Indians, aber auch Vorkämpfer für eine bessere Gesellschaft wie Henry George oder Henry David Thoreau, aber auch Malcolm X in den Blick.

Was herauskommt, ist somit ein Historienfilm, allerdings einer der ganz ungewöhnlichen Art. Denn Gianvito beschränkt sich die meiste Zeit auf das schiere Zeigen von Steinen, Tafeln und Schriften. Es gibt so gut wie keinen erläuternden Text, es gibt kein weiteres Dokumentarmaterial. Genau dadurch aber, durch Verzicht auf, ja, Verweigerung von historischer Kontextualisierung, ist der Film, der so schlicht scheint, auch eine Meditation über den entscheidenden Punkt aller Historiografie. Er zeigt und macht greifbar, was an Ort und Stelle des Geschehens, aber auch im öffentlichen Gedächtnis von den Kämpfen des Tages übrig bleibt. Und von der denkbar weit gefassten Geschichte der amerikanischen Linken, die „Profit Motive and the Whispering Wind“ aufsucht, ist insgesamt, wie man nicht zuletzt am Zustand vieler Gräber und Inschriften sieht, wenig geblieben.

Einen Kontext anderer Art gibt Gianvito seiner Suche. Bilder und Töne anderer Art fügt er hinzu. Indem er, zum einen, die Originaltöne der Denkmalorte wundersam transparent festhält, vom Zwitschern der Vögel bis zum Rasenmäher im Hintergrund auf dem Friedhofsgrün. Und außerdem immer wieder dazwischen: Einstellungen der Natur. Rauschen von Blättern und Schilf und Gras, sanft bewegt meist im Sonnenlicht; dazu kommt das Wispern des Windes, das der Titel verspricht. Es liegt ein großer Frieden und es liegt eine große Schönheit in diesen Bildern und Tönen, die Gianvito zwischen die bewahrte und die begrabene Geschichte stellt als ein Leben und Atmen und Dasein eigenen Rechts.

Und als ein Luftholen zur frenetischen Schlussmontage. In den letzten zehn Minuten macht der insgesamt nur knapp einstündige Film einen Tigersprung in die Gegenwart. Sehr direkt trommelt Gianvito da mit Irakkriegs- und anderen linken Aktivisten auf der Straße zu Eingriff und Aufbruch. Auch hier schneidet er noch einmal Bilder von Laub und Natur dazwischen, nun aber hoch beschleunigt, dem Rhythmus der raschen Montage, dem Trommeln der Menschen auf der Straße unterworfen. Dieser Wechsel von Tempo, Temperatur und Form des Bezugs von Gegenwart auf Geschichte kommt als Schock. Nichts anderes will Gianvito damit bezwecken. So schlicht wie deutlich stellt sich der Film so aufs Äußerste gegenwartszugewandt zugleich in die Tradition der ästhetischen Avantgarde wie in die des politischen Aktivismus. Die Selbstverständlichkeit, mit der er das eine mit dem anderen verbindet, befremdet – und ist gerade in der Befremdung, die er auslöst, bezwingend.

EKKEHARD KNÖRER

■ Die in den USA erschienene DVD ist frei von Regionalcodebeschränkungen und ist für rund 10 Euro problemlos zum Beispiel bei amazon.co.uk zu beziehen