Stuttgarter Parallelwelten

ERSTLING Anna Katharina Hahns Roman „Kürzere Tage“ handelt von den kleinen Lösungen im Leben und kommt trotz Amoklauf und Totenreich ziemlich unspektakulär daher. Selbst wenn Dreizehnjährige missbraucht werden oder ein edeltürkischer Feinkostladen brennt

Es geschieht in einem der wohlhabenderen Viertel Stuttgarts, Hahn kennt sich da aus

Lange sind die jungen Mütter in ihrem jeweils eigenen Familienroman unterwegs: Leonie ziemlich ehrgeizig und mit den beiden Töchtern, Judith etwas brüchig und mit zwei Söhnen. Leonie hätte gerne Kontakt zu Judith, obwohl sie kaum Zeit hat und es gerade noch schafft, nach dem Job die Kinder vom Kindergarten abzuholen und dann etwas verbittert auf den Gatten zu warten. Irgendwann treffen Judith und Leonie aber tatsächlich aufeinander. Es geschieht in einem der wohlhabenderen Viertel Stuttgarts, und man kann davon ausgehen, dass Anna Katharina Hahn weiß, worüber sie schreibt.

Sie lebt in Stuttgart und dürfte genug Gelegenheit haben, Frauen wie Judith zu studieren, die das Studium der Kunstgeschichte nicht so ganz abgeschlossen haben, abends verschämt Tranquilizer schlucken und davon ausgehen, die Welt sei in Ordnung, solange sie störungsfrei funktionieren.

Leonie dagegen setzt darauf, beruflichen Erfolg irgendwie mit Schwanger- und Partnerschaft in Einklang zu bringen. Dass da was nicht stimmt, merkt sie spätestens, wenn sie dann doch mal am Abenteuer schnuppert und mit einem der Gäste beim Geburtstag einer Schulfreundin in dessen Tübinger Hotelzimmer landet. Dummerweise redet der Tobias aber zu viel über die magischen Welten Cortázars und bemerkt nicht Leonies vollumfängliche Zufriedenheit angesichts der Tatsache, dass er wesentlich realer zur Verfügung steht als der Gómes und der Cacao vom VFB.

Frauen um die dreißig

Wir lernen: Frauen um die dreißig träumen schon mal von gut trainierten Fußballern und leben, nachdem sie sich wie Judith in der Studienzeit von einem Lover namens Sören demütigen ließen, die kleine Lösung mit einem gutmütigen Gatten, der wie „der jüngere Bruder von Gerard Depardieu“ daherkommt. Das hört sich alles unspektakulär an und ist es auch.

Anna Katharina Hahn, die für ihren Erzählband „Kavaliersdelikt“ den Heidelberger Clemens-Brentano-Preis erhielt, ist keine Erzählerin der Pointen und Effekte. Selbst wenn sie in ihren Roman eine Zeitbombe einbaut und den vom Stiefvater missbrauchten dreizehnjährigen Marco den Feinkostladen des Edeltürken Nazim abfackeln lässt, geschieht das eher nebenbei.

Marco stammt aus einem raueren Viertel Stuttgarts und geistert lange wie ein Schatten durch den Roman, während die Autorin die Welt ihrer beiden Protagonistinnen sehr genau beleuchtet und dabei verblüffend stilsicher das Ensemble ihrer Arrangements wirken lässt. Unsicher wirkt das nur, wenn sie zu sehr in detailgetreuen Atmosphären verweilt und sich Abstecher wie in die Wohnung eines alten Ehepaares gönnt, das bis dahin nur am Rande auftauchte. Luise und Wenzel wohnen schon seit Menschengedenken im Viertel. Eines morgens wacht Luise auf, geht in die Küche und unterhält sich wie immer mit ihrem noch schlummernden Mann.

Der allerdings antwortet nicht, und plötzlich geht Luise, als laufe ein Programm ab, dazu über, den gerade verstorbenen Lebensgesellen liebevoll für das Totenreich herzurichten. Sie wäscht ihn, kleidet ihn an. Man befindet sich in einer anrührenden Philemon-und-Baukis-Szene und versteht: Alter und Tod haben mit Langsamkeit zu tun.

Hahn bleibt trotzdem noch einige Zeit in der Abgeschiedenheit des Totenzimmers und verschenkt Erzählraum, den sie an anderer Stelle gebrauchen könnte – wie am Ende, als alles plötzlich schnell geht und sie die bis dahin nicht verknüpften Erzählstränge „Marco“, „Luise“, „Judith“ und „Leonie“ zusammenfügt.

Da tauchen Leonies ausgebüchste Töchter in der Wohnung des alten Paares wieder auf und verfolgen fasziniert die Verrichtungen der Luise. Das Ganze passiert parallel zum Amok des Marco und zu einer Szene, in der Judith eine Bekannte unterstützt, die dringend mit ihrem allergiekranken und gerade kollabierten Sohn in die Notaufnahme muss.

In der Klinik trifft Judith ausgerechnet auf den schnöden Sören von damals. Sie unterhalten sich, und man ahnt, dass das mit den beiden noch nie was hätte werden können. Dann geht das anthroposophisch angehauchte Leben in den gemäßigten Stuttgarter Zonen wieder seinen gewohnten Gang. Die Tage werden kürzer, der Winter steht vor der Tür.

JÜRGEN BERGER

■ Anna Katharina Hahn: „Kürzere Tage“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2009. 223 Seiten, 19,80 €