Kolumne Bayreuther Festspiele: Beim Backenzahn des Meisters

Wahn, überall Wahn. Und ein Tag ohne Aufführung muss nicht verloren sein. Zu Besuch beim Oberbürgermeister und in Wagners einstigem Wohnhaus, der Villa Wahnfried.

Ein Tag ohne Musikdrama - da bleibt Zeit fürs Picknicken. Bild: dpa

Am Morgen des dritten Bayreuth-Tages aufwachen und wissen, was man getan hat. Geht Schreibtischarbeit bei mir immer eher auf die Lendenwirbel, greift die Wagner-Andacht auf hölzernen Klappstühlen nach der Schulterpartie. Schmerzend eng und verspannt fühlt sich da alles an - keine Ahnung, wie viel Psychosomatik im Spiel ist. Heute aber ist opern-, pardon, musikdramenfrei. Zeit für die Stadt.

Irgendwie niedlich ist die, zur einen Hälfte Barock, zur anderen Gründerzeit. Eine Damenboutique schlägt Abendkleider zu Dumpingpreisen los, das Schaufenster der Buchhandlung ist voller Wagneriana. Auch die Litfaßsäulen künden kaum von wagnerlosem Kulturangebot, alles ist Gesprächskonzert und adaptiertes Theaterstück, sogar der residente Performancekünstler lädt zu den "Nornen".

Aber am 19. August kommt Daniel Barenboim mit seinem palästinensisch-israelischen Jugendorchester und spielt in der Stadthalle "Les Préludes" von Liszt - ein Stück, das hierzulande als Erkennungsmelodie des Wehrmachtsberichts zu Bekanntheit gelangte. Kein schlechter Schachzug.

Die schleimgelborangebraun gemusterte Auslegeware im Rathaus liegt dort schon eine Weile, in einer Vitrine vor dem Oberbürgermeisterbüro ruht Wagners Samtbarett. Der OB Dr. Michael Hohl, CSU, ist ein guter Manager des Stadtmarketings, lässt Kaffee mit Sahne servieren und nimmt sich Zeit. Die Festspiele, auch für ihn der "deutsche Olymp" (Kulturstaatsminister Neumann)? "Absolut." Mit der neuen Leitung sei eine "Ideallösung geglückt", die den "Nimbus der Dynastie" ("Abkömmlinge, die die Gene von Franz Liszt und Richard Wagner in sich tragen") mit künstlerischer Qualität verbinde.

Ein Quantensprung sei mit den beiden Wagner-Schwestern passiert: Corporate Design, Website, Podcast, Livestreaming, Public Viewing. Welch Öffnung! Natürlich sind die Festspiele "ein ganz wichtiger Wirtschaftsfaktor. Für Gastronomie und Einzelhandel machen diese fünf Wochen ein Viertel des Jahresumsatzes aus." Ist das Leben hier nicht schizo? Im Sommer Nabel der Nation, im Rest des Jahres Provinzkaff? "Bayreuth wird von seinen Bürgerinnen und Bürgern wahrgenommen als eine Stadt, in der sich sehr, sehr gut leben lässt - mehr von den älteren zwar wie von den jüngeren."

Zwischenstopp im Freimaurermuseum, dessen Direktor mit gezwirbeltem Moustache über zweierlei belehrt: Wagner durfte sich wegen seiner antisemitischen Tendenzen gar nicht erst um den Eintritt in die Loge bemühen. Und: In der Festspielsaison geht kein Bayreuther auswärts essen, zu deftig sind die Aufschläge.

Die Villa Wahnfried ist das pompöseste Anwesen von ganz Bayreuth. Auffahrt, Ludwig II. in Stein, Springbrunnen, Rosenrabatten. Als Wagner 1874 einzog, ließ er erst mal die Wappen der Städte anbringen, in denen es bereits Wagner-Vereine gab. Heute ist hier ein Museum, das mit seiner seit 1976 unangetasteten Ausstellung zur Festspielzeit 50 Cent mehr Eintritt verlangt.

Die Zimmer quellen über vor Büsten, Fotos, Briefen, Partituren und ehrfurchtsvollen, mit Schreibmaschine getippten Erläuterungen. An einer Wand übereinander zwei waagerechte Striche. Der Erste auf 152 cm, "die u. a. von Robert Gutman propagierte Körpergröße", der zweite auf 166,5 cm, "die wirkliche Körpergröße Richard Wagners". In einer ledernen Geldbörse ein "Backenzahn des Meisters".

Die Nazizeit ist dokumentiert mit einem Wisch, der die Luftschutzvorkehrungen auf dem Hügel beschreibt, zwei Fotos von Kraft-durch-Freude-Festspielbesuchern sowie einem knappen Text darüber, dass Hitler die Festspiele trotz Krieg fortsetzen ließ, dafür Personal freistellte und "so das Niveau gehalten werden konnte". Die Ausstellung soll bis zum Wagner-Jubiläumsjahr 2013 gründlich überarbeitet werden und sogar einen Anbau bekommen.

Man möchte sagen: Die Zeit ist reif. Mit mir verlässt ein weißhaariger Besucher das Haus, auf dessen T-Shirt steht: "Wahn! Wahn! Überall Wahn!" Hinter dem Haus hat jemand am Grabstein von Russ, Wagners Lieblingshund, einen Leckerli-Knochen mit roter Schleife und Grußkärtchen abgelegt: "Lieber Russ, bewache bitte weiterhin gut unseren Meister Richard."

Mir schwindelt, im angrenzenden wunderschönen Hofgarten lege ich mich auf die Wiese. Leute, vor allem junge zum Glück, grillen, spielen Fußball und lernen für Uni-Klausuren.

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