Fremde in der Nacht

MAIL AUS MANILA Ein Dachlokal in der Nachbarschaft raubt den Schlaf. Zum Glück gibt es die philippinische Bürokratie

Die Nachbarn machen die Fenster zu und die Klimaanlage an. Wir haben keine Klimaanlage

Es fing damit an, dass in unserer Nachbarschaft in Manila ein Dachrestaurant aufmachte. Trotz exzellenter Lage mit Blick über die Stadtdächer blieben bei Dencio’s – so heißt der Laden – die Tische leer, selbst Bierpromos halfen nichts. Nach einer Durststrecke von zwei Monaten entschloss sich das Management, das Publikum mit einer Methode zu ködern, die auf den musikbegeisterten Philippinen immer zieht: Livebands! Eines Abends, die Tochter war gerade erfolgreich ins Bett gebracht, donnerte plötzlich ein Trommelwirbel durch die Nachbarschaft, gefolgt von einem Medley beliebter Karaoke-Hits, das erst kurz nach Mitternacht endete. An Schlaf war nicht zu denken. Die sanften Melodeien waren selbst im Keller zu hören.

Als am nächsten Abend eine andere Kapelle „Surfing USA“ anstimmte, beschloss ich, dem Restaurant mal einen Besuch abzustatten. Der Manager war entsetzt: Dass die Musik auch in der Nachbarschaft zu hören sei, hätte er nicht gedacht und natürlich werde man SOFORT Gegenmaßnahmen ergreifen. Eine Woche später waren die Coverversionen von „My Way“ und „Dancing Queen“ in unverminderter Lautstärke zu hören, aber nun wollte mich ein uniformierte Sicherheitsmann vom Betreten des Restaurants abhalten. Die versprochenen Schallschutzwände waren indes nicht zu sehen.

Freunde rieten mir, beim Barangay-Captain vorstellig zu werden. Die Barangay ist die kleinste Verwaltungseinheit in den Philippinen, eine Art Kiez, und der Baragay-Captain ist dafür zuständig, den Ärmsten der Armen mit einem dringend benötigten Medikament auszuhelfen, kleine Streitigkeiten zu schlichten und alle vier Jahre seine Wiederwahl durch die großzügige Ausgabe von Reissäcken zu sichern. Sein Büro ist eine winzige Bude, in der er, unterstützt von einer Sekretärin mit mechanischer Schreibmaschine, sitzt. Mein Auftauchen löste großes Interesse aus, schnell wurde ich angehört. Doch wegen des am Büro vorbeirauschenden Verkehrs auf der sechsspurigen Straße war die Verständigung schwierig. Der Barangay-Captain versprach baldige Hilfe. Wenige Tage später werde ich tatsächlich zu einem Schlichtungsgespräch mit einer Vertreterin von Dencio’s einbestellt.

Auch die Managerin aus der Dencio’s-Zentrale zeigt sich besorgt, dass wir nicht schlafen können. Schließlich habe sie selbst eine Tochter, und sie verspricht den Einbau von schallschluckenden Fenstern. Als ich gehen will, hält mich der Baragay-Captain zurück – ob ich denn wisse, dass unsere Nachbarschaft als commercial zone eingestuft und Livemusik daher erlaubt sei? Nein, dass wusste ich noch nicht. Ich verbringe die nächsten zwei Wochen damit, mich darüber zu wundern, wieso wir in einer solchen Zone wohnen, wenn es in der ganzen Gegend ein einziges kommerzielles Unternehmen gibt, das lärmende Restaurant. An der Lautstärke der Musik ändert sich freilich nichts, und „Morning Has Broken“ kann ich inzwischen auswendig mitsingen. Die Nachbarn machen die Fenster zu und die Klimaanlage an. Aber wir haben keine Klimaanlage.

Ich begebe mich zum Liegenschaftsamt. Dort wird mir eine Karte von Manila vorgelegt, aus der eindeutig hervorgeht, dass wir in einer residential zone wohnen, und der hilfreiche Angestellte weiß auch gleich, dass dort überhaupt keine Livemusik erlaubt ist. Ich frage mich, was die Dencio’s-Managerin dem Barangay-Captain gezahlt hat. Man empfiehlt mir, einen Brief an die Leiterin der Umweltbehörde zu schreiben, die offenbar auch für akustische Umweltverschmutzung zuständig ist. Ich schreibe und kaufe neue Ohrstöpsel.

Zwei Wochen später klingelt es um neun Uhr abends an unserer Haustür. Als ich aufmache, stehen acht Männer in Anzügen vor mir. Sie seien vom Rathaus und wollten gerne mal mit mir reden. Sie setzen sich an unseren Esstisch, einer holt eine Akte hervor, in der ich unter anderem meinen Brief sehe, und beginnen, mich über den Fall zu befragen. Schließlich stellt sich heraus, dass sie am Freitagabend gekommen sind, weil sie zu Recht vermuten, dass heute bestimmt bei Dencio’s Musike erklingt. Und tatsächlich – wie bestellt beginnt eine Coverband „Strangers in the Night“ zu intonieren.

Das Besteck klappert noch

Die acht Männer holen aus ihrem Dienstwagen ein Schallmessgerät und informieren mich nach kurzen Messungen darüber, dass die Musik bereits viermal über dem erlaubten Dezibelwert liegt. Ich traue meinen geschundenen Ohren nicht. Sie verschwinden mit dem Versprechen, gleich zu Dencio’s zu gehen. Eine halbe Stunde später hört die Band zu spielen auf, und ich kann zum ersten Mal seit vier Monaten wieder ungestört schlafen. Zwei Wochen später geht die Musikbeschallung wieder los. Ich rufe im Rathaus an, die acht Männer tauchen wieder auf, diesmal in Begleitung der Leiterin der Umweltbehörde. Sie drohen dem Management von Dencio’s mit dem Entzug seiner Lizenz. Seither klappert nur noch das Besteck. Wenn ich philippinischen Freunden von diesem Beispiel deutscher Pedanterie in der philippinischen Bürokratie erzähle, schütteln sie nur den Kopf. Dass es beim Rathaus Angestellte gibt, die tatsächlich für den Bürger arbeiten, können sie nicht glauben. TILMAN BAUMGÄRTEL