Die Physik der Gesellschaft

DEUTSCHES SINNBILD Dokument einer gescheiterten Utopie: Eine Bremer A.-R.-Penck-Retrospektive findet ohne Beteiligung des zurückgezogen lebenden Künstlers statt

Penck ist einer, der den Rahmen sprengt. Ohne Anfang und Ende, ohne Ruhepunkt. Ohne klare Aussage oder gar Antwort auf die Frage nach der Zauberformel

VON JAN M. ZIER

Es ist die Faszination der großen Fragen, die er symbolisiert. A. R. Penck. Fast reflexhaft verbinden sich mit ihm die deutsch-deutsche Teilung, der Widerstreit zwischen Kapitalismus und Sozialismus, zwischen Politik und Ökonomie. Neuerdings ergänzt, natürlich, um die gegenwärtige Systemkrise. Und so kann 2009 eine Ausstellung mit ihm auch nur „Deutschland“ heißen, mit Euro-, Yen- und Pfund-Symbol notiert, mit Dollarnote und einem Kreuz anstelle des T. Doch am Ende steht Ernüchterung. Und die Wucht der Bilder verpufft ins Ungefähre.

Knapp 40 überwiegend großformatige Werke aus der Zeit von 1956 bis 2007 hat das Neue Museum Weserburg in Bremen zusammengetragen. Ergänzt wird Pencks Malerei um allerlei Künstlerbücher und Schallplatten.

Der Autodidakt Penck ist angetreten, eine Form zu finden, Deutschland zu malen. Und so sind viele seiner Werke nur Ausschnitt eines größeren Zusammenhangs. Sie wollen nicht einzeln stehen. Sondern den Versuch dokumentieren, die „Physik der menschlichen Gesellschaft zu erfassen“, wie Penck es selbst einmal formulierte. Seine Kunst als Malerei zu beschreiben trifft es also nur vordergründig. Schon weil sein Zeichensystem nichts von Schönmalerei oder Suche nach Perfektion in sich trägt, zu sehr der Mathematik, der Kybernetik verhaftet ist. „Es geht um die Identität, die wir innerhalb eines Systems haben“, sagt Penck.

Es ist eine männliche Identität. Seine wiederkehrenden Strichmännchen sind archaische, hieroglyphenartige Zeichen, die eine aufrechte Haltung demonstrieren und dabei so sehr nach dynamischen Beschreibungen schreien. Nur mühsam halten viele Werke die auf ihnen vorfindliche Fülle zusammen, es drängt und wuchert, es rotiert und windet sich. Penck ist einer, der den Rahmen sprengt. Ohne Anfang und Ende, ohne Ruhepunkt. Ohne klare Aussage oder gar Antwort auf die Frage nach der Zauberformel. Es fällt schwer, ihn zu lesen, und bisweilen sind auch des Künstlers eigene Aussagen zu den Werken höchst widersprüchlich. Seine Utopie ist – auf hohem künstlerischen Niveau – gescheitert. Und ein Erbe, der seine Idee weiterführen könnte, ist nicht in Sicht. Als Modellfall taugt er also nicht, eher schon als deutsches Sinnbild des 20. Jahrhunderts.

Mitunter spiegeln sich Vorbilder wider. Picasso und Klee gehören dazu, sogar Rembrandt. Und Baselitz. Der aber weniger ästhetisch: Als dessen Westberliner Ausstellung 1963 der Unsittlichkeit bezichtigt und staatsanwaltlich zensiert wird, kann, drüben im Osten, auch Penck die politische Dimension seines Künstlertums nicht länger ignorieren. In der DDR bekommt er wenig später Berufsverbot, im Westen dafür Erfolg. Aus Ralf Winkler wird A. R. Penck, in Anlehnung an einen Geologen und Eiszeitforscher. Später wird er sich auch mal TM nennen, Mike Hammer oder Y. 1968 werden die ersten Bilder in den Westen geschmuggelt und in Köln gezeigt. Die Ausstellung erzählt davon in beredten Fotos. Penck, der noch an das menschliche Antlitz im real existierenden Sozialismus glaubt, bleibt lange ein Künstler der DDR – in der Hoffnung, von ihr anerkannt zu werden. 1980 stirbt der Traum: Er muss ausreisen. Und ist dem einen Lager so wenig zuzurechnen wie dem anderen. Einsam sitzt er zwischen allen Stühlen, dabei von fast manischem Schaffensdrang getrieben.

Im Westen folgen die ersten Retrospektiven, eine Karriere zwischen documenta, Biennale und Professur in Düsseldorf. Inzwischen kosten seine Bilder auf Auktionen bis zu 460.000 US-Dollar, das Portal art-facts.net listet ihn unter 146.000 „KünstlerInnen von Rang“ auf Platz 161. Und doch verschwindet er im gleichen Maße aus der Öffentlichkeit, wie er in ihr verankert wird. Seit Langem lebt er völlig zurückgezogen in Irland, wo ihn selbst das Sammlerehepaar Böckmann, das ihn seit 30 Jahren begleitet, nicht besuchen darf. „Er ist ein lebenslustiger Typ gewesen“, sagt Georg Böckmann, einer, der sich kaum eine Jamsession hat entgehen lassen. Heute gilt es als unwahrscheinlich, dass er zu seiner Retrospektive kommt. Fast fällt es schwer, ihn noch als Zeitgenossen zu sehen.

■ A. R. Penck „Deutschland“. Weserburg-Museum Bremen, bis 17. 1. 2010, Katalog 36 €