Zwanzig Jahre deutsche Einheit
„Vielleicht gab‘s die DDR nie“

Eine Spurensuche im Norden der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze. Heute: Der Ost-West-Autor Rayk Wieland
ERINNERUNGSKULTUR Die DDR wird zu Unrecht dämonisiert, sagt der Satiriker und Autor Rayk Wieland. Deshalb hat er eine Persiflage über die Stasi geschrieben. Die hat auch ihn bespitzelt. Nicht so schlimm, findet er

■ Orte: Wieland stammt ursprünglich aus Leipzig. Der gelernte Elektriker und Philosoph pendelt derzeit zwischen Berlin und Mecklenburg, in Hamburg moderiert er den „Toten Salon“ am Thalia Theater.

■  Referenzen: Schreibt sporadisch für die „Wahrheit“-Seite der taz, arbeitet fürs Fernsehen.

■ Bücher: „Öde Orte“ heißen drei Bände voller Städteverrisse, die zwischen 1998 und 2003 herauskamen. Der satirische Roman „Ich schlage vor, dass wir uns küssen“ erschien 2009 und handelt von Stasi-Oberleutnant Schnatz, der den pubertären Ost-West-Liebesbriefwechsel des Protagonisten auf antisozialistische Formulierungen hin seziert. Foto: H.-Christoph Bigalke

INTERVIEW PETRA SCHELLEN

taz: Herr Wieland, mal ehrlich: Hat es die DDR je gegeben?

Rayk Wieland: Ich bin mir da manchmal nicht mehr ganz sicher. Denn die DDR ist ja optisch komplett verschwunden. Auch die Leute sind nicht mehr die gleichen. Außerdem stimmt das, was über die DDR erzählt wird, nicht mit meinen Erinnerungen überein. Die DDR wird ja dermaßen dämonisiert …

Was heißt hier Dämonisierung! Gab‘s die Stasi oder nicht?

Wir hatten einen Geheimdienst, der nicht demokratisch kontrolliert und übereifrig war. Er hatte weit gehende Rechte und mischte sich in die Intimsphäre der Leute ein. Das ist nicht zu leugnen. Aber die Stasi war nicht das Hauptmerkmal der DDR.

Sondern?

Das weiß ich nicht genau. Im Nachhinein verschiebt sich ja die Wahrnehmung. Heute denke ich manchmal, dass ein wichtiges Merkmal die Ruhe war. Außerdem gab‘s wenig Geld und viel Romantik. Zu DDR-Zeiten allerdings schienen die Hauptmerkmale Kleinbürgersozialismus und Bevormundung zu sein.

Haben Sie unter dem Regime gelitten?

Ja, aber mit dem Ende der DDR war das vorbei. Das war bei mir so eine Art Stockholm-Komplex: Die DDR war klein, kleingeistig und durchreguliert. Es war auch kein richtiger Sozialismus. Ich fand die DDR nie gut, aber seit sie weg ist, trauere ich ihr nach.

Tun das viele Ostdeutsche?

Das weiß ich nicht. Tatsache ist aber, dass wir in den 80er Jahren freier waren. Die Leute wurden nicht mehr so drangsaliert und haben sich ihren Platz gesucht. Sie waren aber auch nicht mehr so blauäugig.

Trotzdem gab es Opfer. Der Stasi-Knast Bautzen war kein Ferienidyll.

Bautzen I und Bautzen II gab es, da ist nichts zu beschönigen. Das waren Gefängnisse, in denen politische Gefangene saßen, zum Teil aller Rechte beraubt. Das war extrem unsozialistisch.

Die Opfer würden nicht von „Dämonisierung“ sprechen, sondern von Unterdrückung.

Ja. Aber wenn die so genannten DDR-Oppositionellen, die wirklich Widerstand leisteten, Ende der 80er Jahre mal 1.000 Leute waren, wäre das viel. Die Mehrheit der Bevölkerung hat sich arrangiert oder fand die DDR sogar gut. Vor dieser Tatsache werden in der offiziellen Debatte die Augen verschlossen. Da waren immer alle Unterdrückte oder Oppositionelle. Das stimmt nicht. Die meisten waren Mitläufer.

Wird das im Osten ehrlich diskutiert?

Das Problem ist komplizierter, denn was heißt schon Mitläufer. Unter den Ex-DDR-Bürgern gibt es eine unausgesprochene Gemeinsamkeit, die lautet: Man weiß, was man von der DDR zu halten hat, ohne das im einzelnen diskutieren zu wollen. Das wiederum lag an der anhaltenden Ambivalenz: Einiges fand man an diesem Staat gar nicht schlecht. Anderes ging einem auf die Nerven. Aber die schablonenartige Zuschreibung nach dem Motto: „In der DDR hat eine schamlos sich bereichernde Funktionärsclique die Bevölkerung unterdrückt“ ist falsch.

Hat überhaupt irgendwer Lust, sich genau zu erinnern?

Es gibt natürlich immer Floskeln wie „zu DDR-Zeiten wär das nicht passiert“. Die sind insofern legitim, als sich jeder gern an Kinderzeiten erinnert, in denen alles besser war. Abgesehen davon glaube ich, dass sich niemand mehr so richtig für die DDR interessiert. Die DDR ist weit weg. Man ist fertig mit ihr. Es war eine Erfahrung. Ein Experiment wie die Pariser Kommunen oder die Oktoberrevolution. Das ist alles kaum mehr real. Auch ganz faktisch nicht: Die Mauer in Berlin ist ja nicht mehr da. Wie schnell das alles verschwunden ist, finde ich schon eigenartig. Und dann wurden ein paar Mauerteile wieder aufgestellt und künstliche Erinnerungsorte geschaffen. Es scheint, als scheute man die ehrliche Auseinandersetzung – sowohl mit den abschreckenden Überbleibseln der DDR als auch mit dem, was sie vielleicht in anderen Bereichen zu bieten hatte.

Ihr neuer Roman „Ich schlage vor, dass wir uns küssen“ ist teils autobiografisch. Haben Sie darin die Bitterkeit über das eigene Bespitzeltwerden verarbeitet?

Nein. Ich wollte das Buch gar nicht schreiben und habe mich breitschlagen lassen. Die Grundidee des Buchs ist eine persiflierende Verteidigung der DDR.

Ist das nicht wohlfeil? Etwas verteidigen, das nicht mehr gefährlich werden kann – das kann jeder.

Aber bei der DDR macht‘s ja niemand! Ganz so wohlfeil kann es also nicht sein.

Wer hat Sie zu dem Buch überredet?

Der Verlag. Ich hatte anlässlich der Oscar-Preisverleihung für den Film „Das Leben der anderen“ einen Text geschrieben, in dem ich meinen Stasi-Spitzel porträtiere, der ganz anders war als der, den Ulrich Mühe dargestellt hat. Mein Spitzel war ein Zuhälter, der mich nebenbei für die Stasi bespitzel hat.

Wollten Sie Ihre Stasi-Akte überhaupt einsehen?

Ich musste es, als ich für den MDR arbeiten wollte. Aber eigentlich hatte ich keine Lust, die Akte kommen zu lassen und mich dann einzureihen in die Truppe der Aufarbeiter, Rechthaber und Denunzierer.

Sie wollten nicht wissen, ob Freunde Sie bespitzelt hatten?

Ich wollte auf meinen eigenen Erinnerungen und meiner eigenen Wahrnehmung bestehen. Ich wollte nicht wissen, was Leute, die ich gar nicht kenne, irgendwo notiert haben. Ich habe nie Sympathien für die Staatssicherheit gehabt und wollte ihr weder mein Leben noch meine Erinnerung anvertrauen. Auch nicht der Gauck-Behörde. Und was die Bespitzelung durch Nahestehende betrifft, war ich ziemlich sicher, dass das nicht der Fall war. Das wäre mir aufgefallen.

Haben Sie eine Lieblings-Erinnerung an die DDR – oder eine Lieblingslüge?

Nein, nur ganz normale Kindheitserinnerungen. Was mich aber immer beeindruckt hat, war der sichtbare Verfall. Die Fassaden der Häuser hatten ja teilweise noch Einschüsse aus dem Zweiten Weltkrieg, ganze Dörfer sahen aus wie in den 20er Jahren. Das hat mir gefallen, denn man war ständig in einem Museum der vergehenden Zeit.

Da die DDR Relikte bürgerlichen und kirchlichen Lebens systematisch verfallen ließ, war absehbar, wann dieser Atem ausgehaucht sein würde …

Die Sachen haben sich erstaunlich lange gehalten – 40 Jahre …

Es gab ja bewusste „Entweihungen“: Die barocke Klosterkirche im brandenburgischen Neuzelle wurde zur Turnhalle.

An Sporthallen in Kirchen kann ich mich jetzt nicht so erinnern. Aber es gab ja auch Altersheime in ehemaligen Schlössern. Diese Dekontextualisierung, die Umwidmung von Autorität fand ich immer sehr angenehm.

Sie halten sich inzwischen meist im Westen auf: Fühlen Sie sich jetzt endlich frei?

Der individuelle Spielraum ist größer. Man kann sich eine eigene Meinung erlauben, auch wenn sie niemand hören will. Aber auch in der DDR habe ich mich nie so richtig unfrei gefühlt. Eher abgeschnitten oder beengt. Ein zähes Land, in dem alles langsam vorwärts ging.

Ein freudloses?

Nein. Allerdings – die Farben im Stadtbild waren schon freudlos. Obwohl ich im Nachhinein auch diese Blässe angenehm finde.

Das könnte jetzt eine nostalgische Anwandlung Ihrerseits sein.

Ja, klar! Das kann man eh nicht mehr so richtig auseinander halten.