Wer „Yes we can“ erfand

SOUL MUSIC Peter Guralnicks „Sweet Soul Music“ ist das Standardwerk über jene wunderbare Musik, die in den Sechzigern auch für ein friedliches Miteinander von Schwarz und Weiß in den USA stand. Endlich ist es auf Deutsch erschienen

Bei Stax arbeiteten Leute zusammen, die Restaurants nicht durch denselben Eingang betreten durften

VON LARS BULNHEIM

„Wir haben dumm geguckt und gespielt, während die Schwarzen gesungen haben“, lässt sich Dan Penn, einer der unterbewertesten Songschreiber des letzten Jahrhunderts in Peter Guralnicks „Sweet Soul Music“ zitieren. Es geht in diesem Buch um die Soulmusik der Südstaaten, um ihre Stars Sam Cooke, James Carr, Aretha Franklin, Wilson Pickett, Otis Redding und um ihre meist weißen Manager, Begleitmusiker und Songschreiber. 22 Jahre nachdem das Buch in den USA erschienen ist, erbarmte sich nun der auf Musikbücher spezialisierte Bosworth-Verlag, eine Übersetzung der wichtigsten Milieustudie und Anekdotensammlung über die klassische Ära von Soul vorzulegen.

Makellose Linernotes

Guralnick ist einer der namhaften Chronisten der amerikanischen Popmusik. Auch seine Bücher über Countrymusik, über den Bluesgitarristen Robert Johnson, über den Soulsänger Sam Cooke und über Elvis Presley gelten als Klassiker. Seine Linernotes für Schallplatten sind makellos. Der 65-Jährige ist ein begabter Erzähler und akribischer Rechercheur. „Mein Ziel ist es, komplett zu verschwinden in der Welt, über die ich schreibe“, hat er einmal in einem Interview gesagt. Man hat manchmal das Gefühl, einen Roman zu lesen, so nahtlos reiht sich das Geschehen in „Sweet Soul Music“ aneinander. Dabei ist Guralnicks Vorgehensweise soziologisch, sein eigentliches Thema die Entstehung einer Zivilgesellschaft, in der schwarze und weiße Amerikaner für die Dauer eines knappen Jahrzehnts eine Partnerschaft eingingen.

Guralnick beschreibt zunächst, wie die Gospeleinflüsse in den R&B und Popmusik gelangten und welche Geschütze von den Kanzeln der schwarzen Baptisten gegen den ketzerischen Hybriden aufgefahren wurden; wie aus dem Gospelsänger Sam Cooke der erste Soulstar wurde und der blinde Pianist Ray Charles zumindest die Rassenschranken in den Köpfen zum Einstürzen brachte. Verfolgt wird der Werdegang eines Schuhputzers namens James Brown, der als Kind im Winter barfuß zur Schule ging und zum Godfather des Souls aufstieg.

Ausführlich porträtiert Guralnick auch die Plattenfirma Stax, die in einem ausgemusterten Kino in Memphis, Tennessee entsteht. Notdürftig wird der Kinosaal zu einem Aufnahmestudio umgestaltet, und ein paar Rhythm-and-Blues-begeisterte Jugendliche lungern ständig im angeschlossenen Plattenladen rum. Sie gründen eine Band namens Booker T. & The MGs und landen einen Instrumental-Hit. Es sind weiße und schwarze Kids, die hier zusammen Musik machen und schließlich zum Fixpunkt, nicht nur von Guralnicks Buch, sondern für ein zur Blüte gereiftes musikalisches Genre werden. Der Stax-Sound sog die Einflüsse seiner Umgebung auf: Gospel, Blues und Country. Bei Stax arbeiteten Leute zusammen, die die Restaurants im segregierten Süden der USA nicht durch denselben Eingang betreten durften.

An anderer Stelle treffen Amphetamin-Junkies, Schmalspurgangster und Kleinstadtcowboys zusammen, Figuren, wie der eingangs zitierte Songwriter Dan Penn oder der kürzlich verstorbene James Luther Dickinson, die übers Radio mehr über R&B erfahren, das Genre lieben lernen. Sie gründen Bands, unabhängige Plattenfirmen und Tonstudios. Rick Halls legendäres Fame-Studio in dem Kaff Muscle-Shoals in Alabama verdankt sich der Langeweile des Kleinstadtlebens.

Progressives Miteinander

Was die Bürgerrechtsbewegung politisch vorantreibt, ist in der kleinen Blase von Labelbetreibern, Songschreibern und Sängern bereits zur Wirklichkeit geworden. Der schnell verdiente Dollar und die Begeisterung für die Musik diktieren auch in Guralnicks Sichtweise das progressive Miteinander. Otis Redding begrüßte sein weißes Publikum beim Monterey-Pop-Festival 1967 mit den Worten „We all love each other, don’t we?“. Wenig später schon verunglückte Big O, die integrative Kraft von Stax, mit seinem Privatflugzeug, und nur vier Monate später, im April 1968, wird Martin Luther King in Memphis erschossen.

Für Guralnick ging damit eine Ära der Hoffnung zu Ende, die mit dem Zerfall von Stax – angedeutet werden Mafia-Infiltrationen, veruntreute Gelder und schlichter Größenwahn –, ihr endgültiges Schlusskapitel durchlebte. Man muss Guralnick seinen idealisierten Liberalismus vorhalten und dass er die Fortführung des Rassismus im Geschäftsgebaren weißer Studiobetreiber und Labelbesitzer nicht anerkennen mag. Dennoch ist unbestreitbar, dass sich im Zusammenspiel von Schwarz und Weiß eine Dekade lang ein musikalisches Genre herausgebildet hat, das in seiner Produktivität und Wucht einmalig ist. Guralnick würde vermutlich Barack Obamas Werdegang als direkte Folge dessen sehen, was im Süden der USA in den Sechzigerjahren passierte. Tatsächlich ist Obamas Wahlslogan „Yes we can“ ein Songtitel der New-Orleans-Soul-Legende Lee Dorsey.

Jedenfalls gibt es kein besser geschriebenes und faktenreicheres Buch über die Entstehung der Soulmusik und das Milieu ihrer Protagonisten als „Sweet Soul Music“. Auch wenn manch ein um seine Tantiemen betrogener afroamerikanischer Musiker mit Sicherheit weniger verklärt in die Sechzigerjahre zurückblicken würde.

■ Peter Guralnick: „Sweet Soul Music“. Aus dem Englischen von Harriet Fricke. Bosworth Berlin, 2009, 544 Seiten, 29,95 €