Gevatter Tod bremst uns aus

STILL LIFE Der Fotohistoriker Enno Kaufhold kuratiert in der Galerie Tammen die Ausstellung „Schauseiten der Materie“: Moderne Variationen über das Thema Stillleben zeigen ihre Verwurzelung in der Kunstgeschichte

Die Knochen in Jens Knigges Röntgenbildern sind Mahnungen an den Verfall

VON RALF HANSELLE

Schnelligkeit war Jan Brueghels Sache nicht. Für seine Reisen brauchte der Künstler oft mehrere Jahre. Und auch die Erstellung seiner Gemälde nahm zuweilen mehr Zeit in Anspruch als geplant. Brueghel d. Ä. konnte sich Langsamkeit leisten. Weit vor dem Zeitalter der Beschleunigung war der Meister des flämischen Stilllebens noch nicht der Hast und Hektik der Moderne unterworfen. Heute, wo Zeit und Raum medial ineinander verschachtelt sind, ist das anders. Vielleicht liegt es ja daran, dass uns die vielen Blumenstücke und Fruchtstillleben auf den Bildern aus der Brueghelzeit wie unzeitgemäße Fremdkörper erscheinen wollen. Für nature morte scheint das 21. Jahrhundert schlicht zu schnell geworden zu sein.

Und doch: Das Stillleben lebt. Selbst die Kunst der Moderne hat ihre ruhigen Momente. Besonders der Fotografie haben es diese angetan. Von Karl Blossfeldt bis zu Robert Mapplethorpe findet sich eine Spur der Stillstellung. Dort geht es dann noch immer um die Bildwürdigkeit von Objekten und einzelnen Dingen. Egal, ob es sich dabei um eine angeschnittene Zitrone auf einem Gemälde von Georg Flegel oder um das neueste Modell der Automarke Citroën handelt.

Barockes Erbe

Das heißt aber nicht, das still life wäre heute ausschließlich in den fetischfixierten Werbewelten zu finden. Auch die zeitgenössische Kunst pflegt das stille Erbe des Barocks. Das beweist die diesjährige Sommerausstellung in der Kreuzberger Galerie Tammen. Unter dem Titel „Schauseiten der Materie“ werden zurzeit Werkgruppen von 15 national wie international tätigen Künstlern gezeigt. Es sind dies Künstler, die sich in den letzten Jahren allesamt mit der Bedeutung des Stilllebens für die Gegenwart auseinandergesetzt haben. Und – wenig überraschend: Die meisten der hier gezeigten Arbeiten kommen aus dem Bereich Fotografie. Das mag daran liegen, dass dieses Medium schon von Natur aus ein besonderes Verhältnis zur Unbeweglichkeit hat. Vielleicht hat es aber auch nur damit zu tun, dass Galerist Werner Tammen für weite Teile dieser vielgestaltigen Ausstellung den angesehenen Berliner Fotohistoriker Enno Kaufhold als Kurator gewinnen konnte.

Kaufhold jedenfalls bringt das zeitgemäße Stillleben in nahezu allen Facetten an die Wand. Mal als direktes Zitatenspiel mit den historischen Vorlagen – etwa auf den pastellfarbenen Floralien von Manfred Paul oder den bunten Laubwerkbildern der Israelin Michal Shamir –, mal aber auch als durch und durch progressive Weiterentwicklung des klassischen Kanons. Letzteres ist eindrucksvoll auf den grauen Platinbildern des 1964 geborenen Fotografen Jens Knigge zu sehen. Der Berliner, der sich in der Vergangenheit vornehmlich mit Architektur und landschaftlichen Topografien auseinandergesetzt hat, ist hier mit auf den ersten Blick recht ungewöhnlichen Bildern vertreten. Mit Bildern, die die Aufmerksamkeit weg von den unzähligen Außenansichten hin zu den vernachlässigten Innenseiten der Dinge ziehen. Denn unter Rückgriff auf medizinische Originale zeigt Jens Knigge Röntgenbilder – Lichtanatomien, die er für seine Zwecke fragmentiert und ästhetisch aufbereitet hat. Säuberlich gerahmt zeigen die einst wissenschaftlich genutzten Bilder geflickte Knochenfrakturen oder fragile Fingerglieder.

Die Kunst der Moderne hat ihre stillen Momente. Besonders der Fotografie haben es diese angetan

Irdische Vergänglichkeit

Aus medizinischer Perspektive wäre das kaum erwähnenswert. Doch hier, eingebettet in eine Ausstellung über das Stillleben, entfalten diese Röntgenbilder einen sonderbaren Reiz. Unterschwellig nämlich verweisen sie auf jene dunkle Stelle, auf die die Barockmalerei schon zu ihrer Zeit hingewiesen hatte: Auf unsere irdische Vergänglichkeit. All die schönen Blumen, Tiere und Früchte, sie wurden einst ja nur deshalb auf die Leinwand gebannt, weil sie von dort an den ihnen eingeschriebenen Verfall gemahnen sollten. Auch die dicksten Trauben sind irgendwann eben nur noch schrumpelige Rosinen.

Mit Knigges Knochen ist das nicht anders. Schon in Manns Roman „Zauberberg“ heißt es, dass Röntgenbilder „Grabgestalt und Totenbein“ zu betrachten gäben. Ein Knochen sei nicht mehr, als ein „spindeldürres Memento“. Dieses Memento zieht sich durch die gelungene Ausstellung. Es zeigt sich in Form von Kriegsflugzeugen oder in Gestalt von Tierkadavern. Vielleicht ist das die eigentliche Überraschung in der zeitgenössischen Kunst des Stilllebens: Gevatter Tod, von dem wir hofften, wir hätten ihn mittels Geschwindigkeit überholt, bremst uns noch immer aus. Auch stellt er die Welt ruhig und dann erkennt man ihn – knochig, hart, unübersehbar.

Bis 12. September, Galerie Tammen, Friedrichstr. 210, Di. bis Sa. , 12.00 bis 18.00 Uhr