Warten vor dem Büro der Western Union

KONKRETE LEBENSUMSTÄNDE Viel mehr als Sand und Steine findet Nikolaus Geyrhalter in seinem Dokumentarfilm „7.915 km – Auf den Spuren der Rallye nach Dakar“

Die meisten Menschen vor Ort empfinden sich als abgeschnitten – ihnen fehlen „Möglichkeiten“ jedweder Art

7.915 Kilometer beträgt die Distanz der Rallye Paris–Dakar, die 2007 zum vorläufig letzten Mal in dieser Form durchgeführt wurde. 2008 wurde sie wegen der Gefährdung durch islamistische Anschläge abgesagt und in Lateinamerika ausgetragen. Der Filmemacher Nikolaus Geyrhalter dokumentiert mit „7.915 km – Auf den Spuren der Rallye nach Dakar“ also auch so etwas wie das Ende einer Epoche, denn Paris–Dakar ist eine Idee, die noch deutlich der kolonialen Ordnung verpflichtet ist, zugleich aber schon hypermodern mit Landschaft umgeht. Das Spektakel ist direkt auf Medienwirkung abgestimmt, die eigentliche Bewegung durch die Länder bleibt für das Publikum abstrakt. Das lässt Raum für Fragen: Was passiert in Marokko, nachdem sich der Staub des Rallye-Trosses gelegt hat? Wie leben die Menschen in einem Dorf im Senegal, an dem die Route von Paris–Dakar unmittelbar vorbeiführt? Und wie verhält sich, im größeren Zusammenhang, das Afrika zu Europa, das im Kontext der Rallye nicht einmal exotische Kulisse, sondern tatsächlich nur eine raue Oberfläche bildet, über die Auto- und Motorradfahrer mit dem geringst möglichen Widerstand hinwegfegen?

Wo im Fernsehen nur der immer gleiche Hintergrund eines ariden Territoriums mit Sand, Steinen und Buschwerk zu sehen ist, findet Nikolaus Geyrhalter konkrete Lebensumstände. Von der Rallye zeigt er nach einem Prolog in Paris nur noch die Spuren, die der Tross hinterlassen hat. Ein Mann in Marokko, der die Gegend gut kennt, macht sich ein wenig lustig über die Technokratie des Unternehmens. Die Fahrer vertrauen konsequent auf ihre GPS-Systeme, dabei wüsste er doch immer wieder bessere Routen, mehrere Kilometer kürzer. Aber selbst auf dieser Ebene setzt sich das Missverhältnis fort – die Rallye orientiert sich an einem, wenn man so will, kolonialen Hilfsmittel, das die Landschaft von oben erschließt. Das Kino von Nikolaus Geyrhalter aber lässt sich die Distanzen und das Format von den afrikanischen Ländern und ihren geografischen Bedingungen vorgeben, durch die Paris–Dakar verläuft: das Königreich Marokko, die Demokratische Arabische Republik Sahara, die Islamische Republik Mauretanien, die Republik Mali und die Republik Senegal.

Das Breitwandformat fügt sich einer flachen Landschaft mit niedrigem Horizont, auch so betont Geyrhalter das Kinomatografische im Gegensatz zum Telekommunikablen. Der Regisseur hat mit seiner Ästhetik der geduldigen Beobachtung den Graben zwischen Kino und Fernsehen immer wieder überbrückt – auch in „7.915 km“ ist er unverkennbar ein Reporter, dem es nicht um Subjektivität geht, sondern um einen Bericht aus einer Gegend, die nur durch die Rallye Paris–Dakar überhaupt auf einer „Route“ liegt.

Die Menschen vor Ort empfinden sich in erster Linie als abgeschnitten – von „Möglichkeiten“ jeder Art. Einzig in Mauretanien trifft Geyrhalter auf einem siebzigjährigen Mann, der in seinem Arbeitsleben eine Erfahrung wachsender Teilnahme machen konnte. Er schürft für SNIM (Société nationale industrielle et minière) nach Rohstoffen und ist stolz, dass „unser Eisen“ seit vielen Jahren profitabel vermarktet wird. In Mali hingegen sitzen die jungen Männer vor dem Büro der Bank Western Union und warten auf die Überweisungen von Verwandten, die nach Europa gegangen sind. In Dakar spricht Geyrhalter mit einem Bootsbauer, dessen größter Traum es ist, seinen Eltern eine Pilgerfahrt nach Mekka bezahlen zu können. Wer heute Boote baut, steht unter Verdacht, der illegalen Migration zuzuarbeiten.

„7915 km“ endet mit einem Bild, das wie das zu Beginn aus zweiter Hand ins Kino kommt: Von einem Flugzeug aus ist zu sehen, wie ein vollbesetztes Boot aufgebracht wird. Es ist ein Bild der Überwachung, mit dem dieser Film sich in ein Verhältnis zu seiner eigenen Arbeit setzt, die darin besteht, das sichtbar werden zu lassen, was nicht telekommunikabel ist. BERT REBHANDL

■ „7.915 km – Auf den Spuren der Rallye nach Dakar“. Regie: Nikolaus Geyrhalter. Dokumentarfilm, Österreich 2008, 106 Min.