Bis die Wirbelsäule knirscht

TANZTHEATER Akustische Spuren verdoppeln die Bewegung in „The Song“ der belgischen Compagnie Rosas. Mit deren Deutschlandpremiere im Hebbel-Theater geht nun das Festival „Tanz im August“ zu Ende

Bilder für eine große Fremdheit im eigenen Leben und im eigenen Körper

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Wenn man denkt, jetzt geht es aber los, geht erst mal das Licht aus. Der Tänzer, der eben vom tiefsten Hintergrund der Bühne so schnell an die Rampe gesprintet ist, dass beim Stoppen seine Zehen schon ins Leere ragten, ist nicht mehr zu sehen; aber seine kurze Beschleunigung hat das Adrenalin auch in die Blutbahnen der Zuschauer gepumpt.

Wenn man aber 90 Minuten später in dem Tanzstück „The Song“ glaubt, jetzt ist es zu Ende, weil sich das silberne Segel, das bisher über der Bühne hing, gelöst hat und in einer grandiosen Bewegung auf uns zugestürzt ist, geht es weiter. Über den Punkt der Erschöpfung – von Tänzern und Zuschauern – hinaus noch eine halbe Stunde; und wie genau es endete, weiß man bald darauf nicht mehr.

Eine runde Sache ist „The Song“ von der belgischen Compagnie Rosas nicht und will es wohl auch nicht sein. Der zeitliche Verlauf vom Anfang zum Ende wird ebenso infrage gestellt wie das Verhältnis der Musik zum Tanz: Die längste Zeit ist es still, und nur die Geräusche der Körper von neun Tänzern erfahren eine akustische Verstärkung. Das Setzen eines Anfangs, das Sich-mit-Blicken-Verknüpfen und die Dynamik des Mitziehens und Anstoßens, hier liegt das alles nackt und bloß vor Augen. Mit am Konzept gearbeitet hat Ann Veronica Janssens, eine bildende Künstlerin, die sich in ihren Installationen oft mit den Bedingungen des Ausstellens, wie dem Licht und dem Raum, auseinandersetzt. Da ist es kein Zufall, dass die Rahmung als Aufführung ihre festen Konturen verliert und an den Rändern ins Offene ausfranst.

Die Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker gilt seit der Gründung ihrer Compagnie Rosas 1983 als Garantin für bewegte und bewegende Tanzstücke, glänzend getanzt, im Inhalt und in den Konzepten immer wieder Neues ausprobierend. Auf dem Berliner Festival „Tanz im August“ zeigte sie in den vergangenen Jahren den barock verspielten und sehr erotischen Abend „Mozart/Concert Arias“, eine differenziert in die Musik von Steve Reich einführende Performance-Folge und ein Stück zu indischer Raga-Musik. Man kennt sie als Minimalistin und Klassikerin der Postmoderne ebenso wie von dramatischen Tanzerzählungen mit Partnern aus dem Schauspiel. Noch nie aber sah man von ihr ein Stück, das so sehr von männlichen Tänzern dominiert wurde wie dieses. (Zumal bei der Berliner Aufführung die einzige Tänzerin verletzungsbedingt ausfiel.)

Man könnte „The Song“ auch als Plattform für die Solos von neun Tänzer beschreiben, die zwar zum größten Teil neu in der Compagnie der Rosas sind, zuvor aber Absolventen von P.A.R.T.S. waren, der 1995 von De Keersmaeker in Brüssel gegründeten Tanzschule. So schwelgt sie gewissermaßen darin, eine von ihr kommende Bewegungssprache, die in vielen Spiralen um die Körperachse und durch den Raum zieht, von einer jungenhaften Dynamik besetzen zu lassen. Einerseits gehen diese Tänzer mit lässigem Understatement in die doch sehr virtuosen Sprünge und Drehungen. Andererseits ist ihr Miteinander oft strukturiert wie ein Mannschaftsspiel, wo jeder seine Position im Verhältnis zu den anderen sucht, nur dass hier statt Bällen Blicke und Bewegungsimpulse durch die Öffnungen in den Reihen gespielt werden.

Mit auf der Bühne ist als Geräuschekünstlerin Céline Bernard, die akustische Sehhilfen liefert und dabei im kleinen ein Modell der Bewegung entwickelt: Mit einem beschuhten Fuß klopft sie auf den Boden, wann immer die nackten Füßen eines Solisten den Grund berühren; beim nächsten, der sogar einmal die Bühnenrückwand hochsaust, setzt sie Akzente beim Abstoßen vom Boden. Dann wischen ihre Finger durch eine kleine Wasserpfütze, und sie sieht aus wie ein DJ beim Scratchen: Diesmal sind es die Hüften in HipHop-verwandten Drehungen in der Vertikalen und Horizontalen, die sie so antreibt. Noch später gibt es ein Knirschen, als ob man die Knorpel zwischen den Wirbeln der rückwärts gebogenen Wirbelsäule hören könnte.

Mit einer solchen akustischen Verdoppelung hat auf der Theaterbühne zuletzt die englische Regisseurin Katie Mitchell gearbeitet, in Köln und auf den Salzburger Festspielen, und mit der Synchronisation scheinbar banaler Verrichtungen Bilder für eine große Fremdheit im eigenen Leben und im eigenen Körper gefunden. Es ist ein Akt der Vergrößerung und der Distanzierung zugleich. Auch in „The Song“ schafft diese zwittrige Wahrnehmung eine merkwürdige Spannung.

Ganz auf Musik verzichtet das Stück dennoch nicht. Songs von den Beatles, von den Tänzern gesungen, gesummt, auf der Gitarre gespielt, schleichen sich ein, aber mehr wie etwas, was lange zurückliegt. Vielleicht war das mal der Ausgangspunkt, jetzt ist man woanders angekommen.

■ Am Wochenende geht das Festival „Tanz im August“ zu Ende. Samstag, 19.30 Uhr, sind die Rosas noch einmal im Hebbel-Theater zu sehen, 6 weitere Vorstellungen zeigen Podewil und Radialsystem