Kevin diesmal nicht allein zu Haus

KINO Je größer das Abenteuer wird, desto mehr gewinnen die Bilder an Tiefe: „Oben“ heißt die neue, großartige Produktion aus dem Hause Pixar. Ein Animationsfilm mit eigener Ernsthaftigkeit, durchgehend in 3D gedreht

Ein alter, knarziger Mann und ein gehandicapter Junge in Pfadfinderuniform als Heldenpaar. Diese Idee hätte schnell in der Behauptung oder in der Karikatur versanden können. Tut sie aber nicht

VON DIRK KNIPPHALS

Es gibt in diesem ganz wunderbaren Animationsfilm so viele abgedrehte bis durchgeknallte Einfälle, dass man sich als Zuschauer zwischendurch immer mal wieder kneifen muss. Aber das alles hat seine ganz eigene Ernsthaftigkeit. Da sind Carl und Russell, das Heldenpaar – und zwar durchaus im Sinne von Actionheldenpaar –, ein alter, knarziger Mann und ein gehandicapter Junge in Pfadfinderuniform. Diese Idee hätte schnell in der Behauptung oder in der Karikatur versanden können. Tut sie aber nicht. In der Umsetzung wirkt nichts an ihnen sozialkitschig, gutmütig oder gut gewollt.

Dann gibt es da diesen riesigen Vogel namens Kevin – zugleich wunderschön und total gaga, eine Mischung aus Pfau, Emu, Schnepfe und ausgekipptem Malkasten mit fluoreszierenden Farben. Das hätte wie ein in den Film hineingezwungener Fremdkörper wirken können, als würden die Village People im Kirchenchor mitsingen. Es gibt außerdem Halsbänder, die Gedanken von Hunden in Worte setzen können, was platt hätte werden können, aber tatsächlich zu herrlichen Kollisionen zwischen expressivem Hundeverhalten und trockenen Ansagen von dessen Bedeutung führt.

Und dann gibt es in „Oben“ dieses Haus; das emotionale Herz des Films. Veranda, Erker, Spitzdach – anfangs steht dies Haus wie der Inbegriff des kleinen Glücks noch fest auf dem Erdboden. In den ersten Minuten wird dazu die Geschichte einer lebenslangen Liebe erzählt, und es ist ein weiteres Kunststück von Regisseur Pete Docter, hier die Rührung so deutlich auszustellen, dass das nicht kitschig, sondern zauberhaft wirkt.

Dann stirbt Carls Frau, wir sind erst etwa in Filmminute sieben und haben bereits das Gefühl, schon ein ganzes Leben hinter uns zu haben. Eine Depressionszeit folgt – bis Carl das Haus, anstatt es in Richtung Altersheim zu verlassen, es mit vielen Luftballons zum Fliegen bringt und man als Zuschauer schon denkt: Okay, jetzt fängt also die Märchenstunde an. Aber was wirklich folgt, ist eine Abenteuerfahrt, die sich gewaschen hat.

Die Geschichte ist dann ungefähr die, dass Carl zusammen mit Russell den Vogel Kevin in Südamerika vor einem Abenteurer und seiner wilden Hundemeute beschützen muss. Verfolgungsjagden, Slapstickszenen, Flugeinlagen – und das Haus zieht Carl an Luftballons dabei die meiste Zeit über hinter sich her. Dass der Held der Jugend sich als Feind erweist, man bei dem Abenteuer, ihn zu besiegen, aber auch im Alter noch mit einem neuen Lebensentwurf belohnt wird – darauf läuft Carls emotionale Reise hinaus.

Aber in Wirklichkeit geht es darum, in diesem Film die Wirklichkeit außer Kraft zu setzen und die Fantasie zum Fliegen zu bringen, sie in fröhlicher Verschwendung von Ideen also genauso noch oben zu bringen wie das Haus. Atemberaubend, wie das gelingt! Es muss im Hause Pixar, dessen zehnte Produktion dieser Film ist (nach zum Beispiel „Findet Nemo“, „Ratatouille“ oder „Wall-E“), einen ganz eigenen Wettbewerb geben: Die waghalsigste Idee gewinnt! Mit aller Ernsthaftigkeit und Akribie wird dann aber daran gearbeitet, sie glaubwürdig auf die Leinwand zu bringen. Das wirklich Schöne aber ist erst, dass bei all diesem Arbeitsethos nichts an „Oben“ angestrengt wirkt. Und dass das alles animiert ist, hat man als Zuschauer sowieso bald vergessen, selbst oder gerade wenn die Animationen alles andere als realistisch sind.

„Harry Potter“ und „Ice Age 3“ beließen es in ihren 3D-Episoden noch bei der Erzeugung eines Effektfeuerwerks. In „Oben“, ganz in 3D produziert, kann man darüber hinaus bereits sehen, welche neuen erzählerischen Möglichkeiten sich aus der Dreidimensionalität ergeben. In der Depressionszeit wird alles flach; je größer das Abenteuer wird, desto mehr Tiefe gewinnen die Bilder. Und Carls mürrische Alter-Knacker-Miene wäre ohne 3D sicher nicht so eindrucksvoll.

■ „Oben“. Regie: Pete Docter. USA 2009, 89 Min.