Neue Familienbande

MULTITALENT Die in Argentinien schon hoch gelobte Theatermacherin Lola Arias startet nun mit gleich mehreren Produktionen auch im deutschsprachigen Raum durch. Ein Porträt

Theater, das auf so außergewöhnliche Weise generiert wird, setzt bereits mit den Proben einen Prozess in Gang, dessen Folgen nicht abzusehen sind

VON JÜRGEN BERGER

Sie ist Autorin, Regisseurin, Schauspielerin, Komponistin und Sängerin. Für einen außenstehenden Beobachter könnte der Eindruck entstehen, auf eine ungewöhnlich breit gefächerte Begabung gestoßen zu sein. Da Lola Arias’ Biografie allerdings eng mit Buenos Aires verknüpft ist, liegt ihr künstlerisches Profil einigermaßen im Normbereich. In Argentinien macht man als Künstler immer alles und ist alles in einem. Das hat Tradition, hängt aber vor allem mit den Produktionsbedingungen und der prekären wirtschaftlichen Situation und den mageren Verdienstmöglichkeiten zusammen.

Die Metropole am Rio de la Plata ist die Stadt mit der größten Theaterdichte der Welt. Wer sich hier durchsetzen will, pflegt zwangsläufig all seine Begabungen und versteht sich als Gesamtkunstwerk mit Wohnsitz Buenos Aires. Im Moment allerdings steht für Lola Arias der deutschsprachige Raum auf dem Programm. Gerade tourt ihre argentinische Produktion „Mi vida después“ auf den Festivals von Hamburg über Graz bis München, die mit großer darstellerischer Vehemenz und dem Mut zur Wahrhaftigkeit Einblicke in argentinische Familien gewährt, die heute noch die Brandmale der grausamen Militärdiktatur aus den 1970er-Jahren tragen.

Mut gehört auch bei der Premiere am Freitag in den Münchner Kammerspielen dazu, wenn Lola Arias auf der Bühne ein ganz anderes familiäres Drama entfaltet. „Familienbande“, ihr erstes deutsches Theaterprojekt, handelt von der Familie in Zeiten der künstlichen Befruchtung. Vor allem aber von den Menschen rund um Katja Bürkle, Ensemblemitglied an den Kammerspielen und Mutter einer Tochter, die Bürkle zusammen mit dem Vater großzog, bevor sie sich in die Kollegin Silja Bächli verliebte. Plötzlich hatte die Tochter eine zweite Mama und inzwischen auch einen Halbbruder. Denn als Silja Bächli ihrerseits einen Kinderwunsch hegte, steuerte der Papa ihrer Stieftochter die notwendigen Chromosomen bei. Das Brüderchen blieb sozusagen in der Familie, die am Freitag bei der Premiere als außergewöhnliche Patchwork-Gemeinschaft auf der Bühne stehen wird.

Dass Lola Arias am Wochenende davor in einer Züricher Kneipe sitzt, hat wiederum mit Stefan Kaegi zu tun, dem Mann an ihrer Seite und Mitbegründer von „Rimini Protokoll“. Am Abend ist im Züricher Schauspielhaus die Uraufführung von Kaegis Experten-Installation „Heuschrecken“. Da versteht es sich von selbst, dass Lola Arias sich in den Zug gesetzt hat und, kaum in Zürich angekommen, noch wach genug ist, um ihr argentinisches Temperament ins Spiel zu bringen. Nein, in ihrem neuen Theaterabend gehe es nicht nur um eine verrückte Familiengeschichte, meint sie, sondern um die Art der Familienbindung, die sich entwickelt, wenn Leben auf diese Art und Weise entsteht. „Okay, die Geschichte an sich ist schon außergewöhnlich. Viel außergewöhnlicher ist aber, dass man auf der Bühne den normalen Tagesablauf einer ganz normalen Familie sieht, während hinter der Normalität all die Ängste, Fantasien und Geheimnisse der Familienmitglieder aufscheinen“, sagt sie, und es dürfte ihr bewusst sein, dass die Premiere nur der vorläufige Endpunkt dieses aktuelles Projekts ist. Thea- ter, das auf so außergewöhnliche Art und Weise generiert wird, setzt bereits mit den Proben einen Prozess in Gang, dessen Folgen nicht völlig abzusehen sind.

In der Tourneeproduktion „Mi vida después“ klingt das schon im Titel an. „Mein Leben danach“ meint eben nicht nur die familiären Biografien der beteiligten argentinischen Schauspielerinnen und Schauspieler, sondern auch deren Leben nach „Mi vida después“. Eine der Schauspielerinnen, Nanina Falco, fand während ihrer Recherche zu „Mi vida después“ heraus, dass ihr Bruder zu den verschleppten Kindern der Diktatur gehört. Und so wurde aus dem Bruder plötzlich der „Stiefbruder“ und aus dem Vater ein Scherge des Regimes, der unter Umständen sogar dafür sorgte, dass die leiblichen Eltern ihres „Stiefbruders“ gefoltert und ermordet wurden. Über diesem Wissen zerbrach die Familie. Steht Nanina Falco heute auf der Bühne, zeigt sie ein Foto aus der Zeit, auf dem die Mutter den Bruder badet, und sie meint im staunenden Gesichtsausdruck des kleinen Mädchens, das dabei zusieht, die Frage zu erkennen, woher er komme – wo Mama doch gar keinen dicken Bauch hatte?

So nah am Leben kann Theater sein, wenn Lola Arias Theater macht und im Vorfeld recherchiert, was später Textgrundlage ist. Dazu gehören manchmal ein langer Atem, meint sie, und auf jeden Fall Festivals wie der Steirische Herbst. Sie fühlt sich Graz sehr verbunden, wo sie vor zwei Jahren ihre Trilogie „Love is a sniper“ zeigen konnte, die der Startschuss für ihren Weg ins Herz des europäischen Theaters war. Und wenn sie dann in „Die Liebe ist ein Heckenschütze“ selbst auf der Bühne steht und – als habe Buenos Aires eine neue Nico hervorgebracht – mit rauchiger Stimme singt, sie werde mit einem Revolver ins Bett des Geliebten steigen, ist klar, dass man Lola Arias besser nicht enttäuschen sollte, wenn es um die Liebe und das Theater geht.