Konzentration gegensätzlicher Kräfte

OBSESSIVER POP Die New Yorker Band Dirty Projectors spielte in Berlin, im „Festsaal Kreuzberg“, zu ihrem einzigen Deutschlandkonzert auf

Abstrakte Formenexperimente werden von melodiösen Hooklines und frechen Klangzitaten gebündelt

VON JULIAN WEBER

„Bitte Orca“, das aktuelle Album der New Yorker Band Dirty Projectors, ist eines der Alben des Jahres. An diese obsessiven Popsongs kommt 2009 niemand ran. Ihre überwältigende Schönheit entsteht durch die Konzentration gegensätzlicher Kräfte. Abstrakte Formenexperimente werden von melodiösen Hooklines und frechen Klangzitaten gebündelt. „Bitte Orca“ ist der Beweis, dass komplexe Musik sinnlich sein, dass man am Markt vorbei Erfolg erzielen kann. Dementsprechend groß ist die Erwartungshaltung, als die Dirty Projectors im vollen „Festsaal Kreuzberg“ zum einzigen Deutschlandkonzert in Berlin antreten. 500 aufgeregt murmelnde Brillenträgerinnen und -träger aller Dioptrinstärken warten darauf erleuchtet zu werden.

Zunächst schraubt die US-Musikerin Merrill Garbus alias Tune Yards den Seltsamkeitsfaktor nach oben. Abwechselnd in mehrere Mikrofone singend, loopt sie ihren Gesang in Echtzeit, trommelt dazu tribalistische Figuren, die sie gleichfalls als Loops rotieren lässt – und erzeugt dann mit einer Ukulele funky Licks. „Don’t know where I’m from“, entgegnet Garbus auf eine Publikumsfrage, wo sie denn zu Hause sei. Irgendwo zwischen Sartre und den Slits vermutlich.

Spot aus, Spot an. Die Dirty Projectors starten grußlos mit „Two Doves“, einem schlagzeuglosen, mit Streicharrangement ausgestatteten Song vom Album „Bitte Orca“. Die Streicher fehlen auf der Bühne. Deutlich zu sehen dagegen: Bandleader David Longstreth ist ein dürrer Wolkenkratzer, dazu ein „lefty“, ein Linkshänder, der eine Rechtshändergitarre falsch rum hält. Zunächst spielen nur Longstreth – er trägt zwei Hemden übereinander – und die Gitarristin und Sängerin Amber Coffman, die sich neben Longstreth wie ein Gartenhäuschen ausmacht. Coffman lockt den Sänger in feminine Folk-Gesangsharmonien hinauf, während sie auf ihren Gitarren Ju-Ju-Licks picken. Nach Songende ist es einen Moment still, bis die Ergriffenheit euphorischem Jubel weicht. Der Rest der Dirty Projectors stöpselt die Instrumente ein und setzt zu einem disziplinierten Set an. Neben Amber Coffman die ebenfalls kleine Bassistin und Sängerin Angel Deradoorian, die dritte Sängerin Haley Dekle (klein) und die großgewachsene Rhythmussektion, Brian McComber (Schlagzeug) und Nat Baldwin (Bass). In voller Stärke wirken die Dirty Projectors wie drei Bands gleichzeitig: Captain Beefhearts Magic Band – für die vertrackten Rhythmen und kontrastreichen Instrumentalparts. Scritti Politti – für die ungebrochene, durch diverse Paradigmenwechsel aber kompliziert gewordene Liebe zu all things popculture. Die Persuasions – für die durch Gospelmelodien gestählte Chorfraktion.

Nur ist bei den Dirty Projectors nichts wohlgeordnet, die Proportionen sind durcheinandergeraten. Longstreths virtuoser Leadgesang schießt sich ständig ins Knie. Zum einen, weil die drei Chorsängerinnen ein mächtiges harmonisches Korrektiv entstehen lassen, was ihn öfter vom Mikrofon weg zu den Grundtönen seiner Gitarre zurückkommen lässt. Zum anderen, weil im Dirty-Projectors-Kunstwollen immer Verunsicherung als Schutzvorrichtung eingebaut ist. Longstreth behauptet zwar, er mag Figuren wie William Blake, die ihr ganzes Leben darauf verwendet hätten, um sich zu erklären, aber er sieht mit seinen zwei Hemden nicht aus, als wüsste er, wie das gehen soll.

Also lässt er die Musik für sich sprechen, egal ob es die dekonstruierte Black-Flag-Coverversion „Gimme Gimme“ ist oder die Eigenkomposition „Useful Chamber“, bei der sich ein Housebeat in gregorianisches Gesangswohlwollen auflöst, gesungen mit dreifacher Mariah-Carey-Verve. Die Dirty Projectors stellen an diesem Abend ihre Bilderstürmerqualitäten unter Beweis, aber auch ihr musikalisches Talent.