In der Wärmestube der Kultur

KULTURPOLITIK Hatte die große Koalition einen Kulturbegriff? Staatsminister Bernd Neumann stand für Pragmatik, nur in der kulturpolitischen Semantik wurde es kontrovers

Kultur ist jetzt nicht mehr der zersetzende Geist der Reflexion, sondern ein warmer Schutzraum in Zeiten der kalten Globalisierung

VON DIRK KNIPPHALS

Bilanzen, damit kennt er sich aus. Filmförderung auf neue Füße gestellt. Kulturinvestitionsprogramm ausgehandelt. Außerdem erfreuliche Signale darüber erhalten, dass die Kultur bei krisenbedingten Sparhaushalten verschont bleiben wird. Die Bilanz, die Bernd Neumann in diesen Tagen ziehen kann, fällt vielleicht etwas kleinteilig, aber insgesamt erfreulich aus. Keine großen Fehler gemacht. Im kleinen bis mittleren Bereich einige Projekte angeschoben. Der Kulturstaatsminister ist gut durch diese Legislaturperiode hindurchgekommen.

Der Öffentlichkeit groß aufgefallen ist er allerdings nicht. Bernd Neumann ist kein Scheinwerfermensch und Thesenschwinger. Sein Amtsverständnis ist das eines Gestalters der Rahmenbedingungen von Kultur – aus inhaltlichen Debatten hält er sich heraus. Seinen Bezugsrahmen hat er sowieso im Bundestag, bei den Abgeordneten und Kulturausschüssen. Eher ist er ein Lobbyist in Sachen Kultur als jemand, der auch selbst einen kulturellen Habitus verkörpern möchte.

Hatte die große Koalition einen Kulturbegriff? Wer sich daranmacht, zum Ende dieser Legislaturperiode einmal bilanzierend danach zu fragen, der muss durchaus bei Bernd Neumann anfangen. Der in dieser Bundesregierung fürs Kulturelle zuständige Mann verkörpert vor allem Pragmatik. Das kann in einer großen Koalition wohl auch gar nicht anders sein. Ein scharfer Verfechter von Leitkultur und Hausmusik wäre von CDU-Seite ebenso wenig durchzusetzen gewesen wie ein scharf zuspitzender Intellektueller vonseiten der SPD (nicht dass einem bei letzterem Anforderungsprofil spontan ein passender Kandidat einfallen würde). Auf dem Gebiet der Kulturpolitik gibt es symbolisch viel Porzellan zu zerschlagen und konkret wenig Wählerstimmen zu gewinnen. Da hat man sich lieber auf einen reinen Sachverwalter geeinigt.

Bernd Neumann hat diese Rolle gut ausgefüllt. Das ist das eine, was ihm, nach einer gewissen Fremdelphase angesichts seiner trockenen Art, bei kulturpolitischen Beobachtern schließlich Sympathiepunkte einbrachte.

Das Zweite ist: Der von ihm verkörperte Pragmatismus wirkte nach mancher rot-grünen Überlastung des kulturellen Feldes sogar ganz erholsam. Mit der Einführung des Amtes 1998 von der damals frisch gewählten rot-grünen Koalition ging die Erwartung einher, nun werde ein neuer intellektueller Geist die Kabinettssitzungen durchwehen. Das hat sich dann nur bedingt erfüllt. Christina Weiss, Neumanns Vorgängerin, hat gelegentlich von einer neuen, die Gesellschaft verbindenden Nationalkultur geschwärmt und davon, dass sich mit Kultur die Wunden des Krieges wieder heilen ließen. Festzuhalten ist auch, dass die Entscheidung zum repräsentativen Wiederaufbau der Berliner Schlossfassaden keineswegs vom Konservativen Neumann, sondern in der rot-grünen Regierungszeit getroffen wurde. Gegenüber solcher Kulturbeflissenheit und allzu hoch geschraubten Erwartungen an Kultur wirkte Bernd Neumann wie eine personifizierte Abrüstung des Kulturbegriffs. Wie die Verkörperung des Spruchs: Nun kommt mal wieder auf den Teppich!

Das ist also alles schon okay. Allerdings sollte, wer nach dem Kulturbegriff der großen Koalition fragt, auch keinesfalls bei Bernd Neumann stehenbleiben. Dieser Kulturstaatsminister hat es nämlich auch wiederum keineswegs geschafft, anstehende Grundsatzdebatten etwa über das Humboldt-Forum oder das Urheberrecht voranzubringen und mit seiner Person oder seinem Amt zu verknüpfen. Außerdem haben sich in den vergangenen vier Jahren Verschiebungen ergeben, die sich mit der Figur Neumann nicht gut fassen lassen – wenn sie sich denn überhaupt schon fassen lassen.

Auf der einen Seite war dies die Legislaturperiode, in der einem kulturbeflissene Bekenntnisse von Politikerseite frei Haus geliefert wurden. Geradezu begeistert wurde der Begriff der Kulturnation beschworen, vom Hamburger Ersten Bürgermeister bis hin zum Bundespräsidenten. Kultur, das ist jetzt endgültig nicht mehr der zersetzende Geist der Reflexion, sondern ein warmer Schutzraum in Zeiten der kalten Globalisierung.

Auch Bernd Neumann wird oft ebenso gemeinschaftsstiftend wie unverbindlich, wenn er denn einmal grundsätzlich wird. „Kultur ist unser geistiges Fundament, sie schafft Identität und ist das, was uns verbindet“, sagte er soeben der dpa. Viele Kulturpolitiker wirken so, als wollten sie in Wirklichkeit die berühmte Szene aus „Star Wars, Episode IV“ parodieren, in der Obi-Wan seinem Schüler Luke erklärt, was es mit dieser mystischen „Macht“ auf sich hat. Man braucht nur die Begriffe „Macht“ und „Kultur“ auszutauschen: „Die Kultur ist ein Energiefeld … Es umgibt uns, es durchdringt uns, es hält die Galaxis zusammen. Vertraue der Kultur, Luke!“ Sehr viel anderes sagen Kulturpolitiker auch nicht.

Auf der anderen Seite war dies aber auch die Legislaturperiode, an deren Anfang man noch dachte, nun müssten Abwehrkämpfe gegen einen allzu engen deutschen Kulturbegriff geführt werden – Debatte um Einbürgerungstests und anderes. An ihrem Ende aber steht ein Schriftsteller wie Feridun Zaimoglu ganz selbstverständlich als Bestandteil der deutschen Kulturlandschaft da.

Man kann das Glas als halb leer beschreiben; traditionelle Denkmuster rund um gewachsene Werte und kulturelle Schätze wurden hoffähig. Man kann es auch als halb voll sehen: All das wird in Sonntagsreden zwar beschworen, wirkt in der Praxis aber keinesfalls mehr ausschließend. Da herrscht vielmehr ein erweiterter Kulturbegriff vor, der nicht nur Weimar und Grünes Gewölbe umfasst, sondern auch die Moderne des 20. Jahrhunderts, Pop-Art und migrantische Schreibweisen. Und wenn, wie bei Navid Kermani, einem Autor mit Verweis aufs christliche Abendland ein Preis nicht zuerkannt werden soll, müssen die Bischöfe nach massiven öffentlichen Protesten schließlich einen Rückzieher machen.

In solchen symbolischen Kämpfen um einen aktuellen Kulturbegriff ist Bernd Neumann kaum hervorgetreten; Auseinandersetzungen über Finanzierungsfragen hinaus passen eh nicht in sein harmonisierendes Kulturbild. Der Politiker der großen Koalition, der sich am vehementesten für einen offenen Kulturbegriff eingesetzt hat, war vielmehr Frank-Walter Steinmeier. Der Außenminister erhöhte den Etat des Goethe-Instituts. Und 2006 sagte er zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse in einer bemerkenswerten Rede, dass kulturelle Identität eben kein Schicksal sei, sondern das Ergebnis eines ständigen Prozesses, auch und vor allem eines Prozesses des ständigen kulturellen Austauschs. Migration verbuchte Steinmeier ausdrücklich als kulturellen Gewinn und als Ziel von Politik nannte er die „Erweiterung der kulturellen Möglichkeiten“.

Austausch, Prozess, Erweiterung – das ist eine ganz andere Semantik als die von Fundament, Tradition und Bewahrung. Letztendlich bestand der Kulturbegriff der großen Koalition darin, pragmatisch zu regeln, was pragmatisch zu regeln ist – und ansonsten diese beiden Semantiken nebeneinander stehen zu lassen.

Die Kanzlerin hat das gleich taktisch genutzt. Dass die Kultur nicht ihr allerdringlichstes Anliegen ist, zeigt Angela Merkel durchaus offen. Anstatt vor großformatigen jungen Wilden wie ihr Vorgänger Gerhard Schröder lässt sie sich gern vor einem Adenauer-Porträt in Öl fotografieren. Ansonsten geht sie höchstens mal in Bayreuth und Oslo in die Oper. Zwei große kulturpolitische Reden hat sie in der vergangenen Legislaturperiode gehalten. Zuerst eine in der Münchner Zentrale des Goethe-Instituts, in der sie einen modernen, weltoffenen Kulturbegriff vertrat. Und eine weitere 2008 anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Kulturstaatsministeriums, in der sie dann doch wieder die Akzente auf Zusammenhalts- und Identitätsstiftung legte. Sie setzt also anlassabhängig mal eher auf die eine, mal eher auf die andere Semantik.

Lustig: Obwohl man ihrer zweiten Rede entnehmen konnte, dass Kultur im Grunde das Allerwichtigste sei, musste die Kanzlerin vorzeitig den Festakt verlassen. Die Finanzkrise war gerade ausgebrochen. So stand Bernd Neumann, der sich in seiner Bilanz auch auf eine parteienübergreifende „ganz große Koalition“ der Kulturpolitiker beruft, in all seinem Pragmatismus als Vertreter der großen Koalition zum Schluss alleine da.