Freie Tradition

AVANCIERT Die chinesische Musikerin Xu Fengxia spielt ihre Zupfinstrumente wie im Free Jazz

Augen zu! Wer hören will, muss auch mal auf das Sehen verzichten. Fällt der eine Sinn weg, wird der andere umso mehr gestärkt. Wer aufeinander hören will, sollte sich also nicht groß dabei anschauen, sondern ganz den Ohren vertrauen. So oder ähnlich haben Xu Fengxia und Lucas Niggli wohl ihre Duo-Arbeit konzipiert. Wenn sie, wie am Dienstag im B-Flat, miteinander spielen, sitzt die chinesische Guzheng-Spielerin mit geschlossenen Lidern an ihrem Instrument, auch ihr Kollege am Schlagzeug bekommt kaum ein Auge auf.

Die Musik der beiden verschlafen zu nennen, ginge jedoch etwas an der Sache vorbei. Denn hier werden Energiereserven mobilisiert, die aus höchster Konzentration erwachsen. Zudem bietet die Besetzung einige aufmunternde Überraschungen. Xu Fengxia ist nämlich klassisch geschulte Virtuosin auf Instrumenten wie der 21-saitigen Zither, Guzheng genannt, oder der dreisaitigen Sangxian, einem langhalsigen Gebilde, am Bauch bespannt mit Schlangenleder, das ein wenig aussieht wie ein Banjo.

Kitschverdächtige Weltmusikexotik wird von den beiden Musikern allerdings nicht zelebriert. Sie spielen frei, wie einst im Free Jazz oder heute in der freien Improvisation üblich. Ihre Stücke klingen aber nach nichts von alledem. In ihrem Zusammenspiel walten Kräfte, die weit urtümlicher wirken. Besonders wenn Xu Fengxia den Mund zum Singen öffnet, hat man immer wieder den Eindruck, einer Soulsängerin gegenüberzusitzen, die ihren Empfindungen freien Lauf lässt, ohne sich sonderlich um Konventionen von Melodie oder Rhythmus zu scheren.

Zugleich ist dies Musik von großer Avanciertheit, der man durchaus auch ein Etikett wie „zeitgenössisch“ aufpappen könnte, ohne dass man befürchten müsste, allzu viel Künstliches oder Konstruiertes darin zu finden. Bei dem bestens aufeinander eingespielten Team wirft man einander blindlings die Bälle zu, ohne vorher zu wissen, was als Nächstes kommen wird. Mal stacheln sie sich gegenseitig an, Stimme, Zither und Schlagzeug schaukeln sich immer expressiver und dramatischer hoch, dann wieder folgen stille Momente, in denen Niggli minutenlang nur mit dem Bogen über seine zahlreichen, in Schellenbaummanier aufgebauten Becken streicht und Xu Fengxia kaum hörbare Laute ins Mikrofon flüstert.

Die in Deutschland lebende Musikerin hat schon einiges an Erfahrung mit Musikern der freien Szene gesammelt und spielte unter anderem in den Neunzigern im Global Village Ensemble des verstorbenen Bassisten Peter Kowald. Im Duo mit Niggli schlägt die Verbindung von traditioneller Musik und freier Improvisation aber besonders strahlende Funken. Für ihr aktuelles Album „Black Lotos“ bekamen sie den Preis der Deutschen Schallplattenkritik. Auf der Bühne kommt das Wunder ihrer Begegnung erst richtig zum Tragen und entfaltet seine volle elektrisierende Wirkung. Man hätte sich für das Ganze einen Raum mit noch mehr Ruhe gewünscht. Der natürliche Klang im B-Flat passte andererseits ganz wunderbar zu dieser großen Musik.

TIM CASPAR BOEHME

■ Xu Fengxia/Lucas Niggli: „Black Lotos“ (Intakt)