„Dem Projekt seine Strahlkraft zurückgeben“

WESTLICHE WERTE Der Historiker Heinrich August Winkler über die Ideale des Westens in der Gegenwart und der Geschichte

■ 1938 in Königsberg geboren, bis 2007 Professor in Berlin. Die „Geschichte des Westens“ ist jetzt bei C. H. Beck erschienen (1.343 S., 38 €)Foto: Ullrich Winkler

INTERVIEW RALPH BOLLMANN
UND STEFAN REINECKE

taz: Herr Winkler, in Ihrem neuen Buch führen Sie die Grundwerte des Westens auf christliche Wurzeln zurück. Sind Sie auf Ihre alten Tage religiös geworden?

Heinrich August Winkler: Es geht nicht um meinen Glauben oder Unglauben, sondern um die Wirkungsgeschichte eines Wortes Jesu, in dem ich eine Schlüsselbotschaft des Westens sehe: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist. Darin ist die Säkularisierung der Welt und die Emanzipation des Menschen schon angelegt, zumindest als Möglichkeit.

In der Schule haben wir es so gelernt: Der Ursprung des Abendlandes liegt in der griechisch-römischen Antike. Dann kam das finstere christliche Mittelalter, bis sich das Denken in der Renaissance von kirchlichen Fesseln befreite. Ist das Unsinn?

Das nicht. Aber es war zunächst das Christentum, das das antike Erbe aufgenommen und ins Mittelalter gerettet hat. Eine unmittelbare Kontinuität von der attischen Demokratie bis in die Moderne gibt es nicht, im Gegenteil. Die Gründerväter der Vereinigten Staaten sahen in der Versammlungsdemokratie des alten Athen sogar ein abschreckendes Beispiel. Mit ihrem Repräsentativsystem wollten sie sich davon abheben.

Den Glauben an nur noch einen Gott sehen Sie als historischen Fortschritt. Liegt der Ägyptologe Jan Assmann falsch, der meint, dass dadurch eine neue Art von Hass entstanden ist? Er beschreibt einen Teil der historischen Wahrheit. Der Glaube an den einen Gott brachte auch den Glauben an die Gleichheit der Menschen vor Gott hervor, die Vorform der Gleichheit vor dem Gesetz.

Warum nehmen Sie den gleichfalls monotheistischen Islam aus dieser westlichen Wertegemeinschaft aus?

Weil sich nur im westlichen Christentum der Geist des Dualismus entwickelt hat – der Trennung von geistlicher und weltlicher, aber auch von fürstlicher und ständischer Gewalt. Die Grundlage spezifisch westlicher Modernität entstand bereits im Zuge des Investiturstreits, einer Folge der Papstrevolution Gregor VII. im 11. Jahrhundert. Die westliche Wertegemeinschaft bleibt also ein christlicher Club?

In seiner Wirkung ist das normative Projekt des Westens, wie es im späten 18. Jahrhundert mit den Ideen von 1776 und 1789 entstand, nicht an geografische oder religiöse Beschränkungen gebunden. Es hat sich alsbald gegen die eigenen Väter gewandt und all jenen einen Berufungstitel verschafft, denen Rechte vorenthalten wurden – Sklaven zum Beispiel, Frauen oder Arbeiter. Auch die Bewegungen, die sich gegen westliche Kolonialmächte erhoben, konnten sich auf diese Werte berufen.

Sie bekämpfen aber vehement den EU-Beitritt der Türkei. Ist der Westen also doch ein exklusiv christliches Projekt?

Sobald sich die Türkei vorbehaltlos der politischen Kultur des Westens öffnet, ist sie als EU-Mitglied selbstverständlich vorstellbar. Davon ist sie aber noch sehr weit entfernt.

Kulturell vorbestimmt ist das aber nicht?

Vorbestimmt nicht. Aber das Erbe von Jahrtausenden wiegt schwer. Zudem hat die spezifische Art der Modernisierung durch Atatürk dem Militär eine Machtstellung verschafft, die mit westlichen Vorstellungen nicht vereinbar ist. Und solange eine staatliche Behörde die Ausübung der Religion reguliert, kann man von Religionsfreiheit nicht sprechen. Das gilt für Muslime und erst recht für die kleine nichtmuslimische Minderheit in der Türkei.

Auch Preußen war ein Land mit Staatskirche und starkem Militär.

Deshalb war ja die preußisch-deutsche Variante der Modernisierung gerade für autoritäre Gesellschaften, beginnend mit Japan, so attraktiv. In China gab es sogar vor einigen Jahren eine Fernsehserie, die Bismarck als Vorbild darstellte. Ich glaube aber nicht, dass China auf diesem Weg langfristig erfolgreich ist oder gar ein Modell für die nichtwestliche Welt hervorbringt. Dazu sind die Kosten dieses Versuchs zu offensichtlich.

Den universalen Anspruch seiner Werte darf der Westen nicht aufgeben

Das heißt, es kommt auch in China irgendwann zur großen Katastrophe wie in Deutschland?

Der Historiker ist kein Prophet. Ich kann nur sagen: In der Geschichte des Westens ist der Versuch, politische Partizipation zu verweigern, stets teuer bezahlt worden.

Wenn Sie das protestantische Staatskirchentum als historischen Rückschritt sehen, warum ziehen Sie dann eine direkte Linie von der Reformation in Wittenberg zur amerikanischen Menschenrechtserklärung?

Im Protestantismus ist beides angelegt: die Gewissensfreiheit des Einzelnen und der obrigkeitsstaatliche Zwang. Das englische Staatskirchentum hat den Widerstand der streng calvinistischen Nonkonformisten herausgefordert. An dieses Erbe knüpfen die Gründerväter der Vereinigten Staaten an. Diese protestantischen Ideen haben dann die Erklärung der Menschenrechte durch die Französische Revolution 1789 beeinflusst – viel stärker, als das oft wahrgenommen wird. Die Originalität der Französischen Revolution wird gerne überschätzt.

Der neue US-Präsident hat in der Außenpolitik einen Kurswechsel vollzogen. Ist er im Begriff, das Projekt der globalen Verwestlichung aufzugeben – oder verfolgt er nur dessen sanftere und damit erfolgversprechendere Variante?

Wenn Obama die Gründungsideen der Vereinigten Staaten mit einer scharfen Selbstkritik des Westens verbindet, kann er diesem Projekt seine Strahlkraft zurückgeben. Dann fällt es wieder leichter, an den transatlantischen Ursprung der westlichen Werte zu erinnern. Es stört mich schon lange, dass die EU selbstgefällig von europäischen Werten redet. Diese Werte sind zu einem erheblichen Teil in Nordamerika ausformuliert worden, erst danach begann ihre Karriere in Europa. Auch daran möchte ich mit meinem Buch erinnern.

Viele haben gedacht, die universale Ausbreitung der westlichen Werte sei nur eine Frage der Zeit. Trägt dieser Glaube noch, nach dem Scheitern der Verwestlichungsversuche in Afghanistan oder dem Irak?

Es wäre ein fataler Irrtum zu glauben, man könne dieses Projekt auf andere Länder ohne Rücksicht auf deren kulturelle Prägungen einfach übertragen. In Westdeutschland hatten die Amerikaner nach 1945 Erfolg, weil es Traditionen des Rechtsstaats und der Gewaltenteilung bereits gab, an die sich anknüpfen ließ.

Aus irakischer Perspektive war nicht Deutschland 1945 der Bezugspunkt, sondern die frühere britische Kolonialherrschaft, als deren Erben die USA auftraten. Kann man die Geschichte des Westens ohne Kolonialismus erzählen?

Das kann man nicht, aber man darf dabei auch nicht das Doppelgesicht des Imperialismus außer Acht lassen. Schon Karl Marx hat den Gegensatz von brutaler Unterdrückung und erfolgreicher Modernisierung am Beispiel der britischen Herrschaft in Indien scharfsichtig analysiert. Hier kommt wieder das Christentum ins Spiel, mit seinem, von den Imperialisten in ihrem Sinne umgedeuteten, singulären Missionsauftrag: Gehet hin in alle Welt und lehret alle Völker das Evangelium.

Die Originalität der Französischen Revolution wird gern überschätzt

Schwindet die Bedeutung des Westens durch den Aufstieg von Ländern wie China oder Indien, oder begreifen Sie Globalisierung im Gegenteil als weitere Verwestlichung der Welt?

Auf lange Sicht wird es wohl weitere Verwestlichungsprozesse geben. Samuel Huntington schreibt in seinem Buch über den Zusammenprall der Kulturen sinngemäß, die westlichen Werte seien nur für den Westen geeignet. Das ist eine resignative Abwehrhaltung, die das westliche Projekt um seine subversive Wirkung bringt. Den universalen Anspruch seiner Werte darf der Westen nicht aufgeben, wenn er sich nicht selbst aufgeben will.

Die westliche Konsumkultur ist überall im Vormarsch, man trägt weltweit die gleichen Turnschuhe und trinkt Kaffee bei Starbucks. Was bedeutet das für das Projekt des Westens?

Wenig, solange sich die Rezeption westlicher Errungenschaften darauf beschränkt. Es gibt keinen Automatismus, der von der Übernahme westlicher Technik oder des westlichen Kapitalismus zur westlichen Demokratie führt. Es gibt nur die Hoffnung, dass sich gegenüber autoritären Gewalten am Ende diejenigen durchsetzen, die auch in Sachen Menschenrechte vom Westen zu lernen bereit sind.

Der Kapitalismus steckt momentan in einer Krise. Lässt sich die Geschichte des Westens von der Geschichte des Kapitalismus trennen?

Zumindest nicht vom Schutz des Privateigentums. Leben, Freiheit und Eigentum – dieser Gleichklang gehört zur Entstehungsgeschichte des westlichen Projekts in England und Amerika untrennbar dazu. Dass der Kapitalismus zyklische Krisen kennt, ist im Übrigen nichts Neues. Das wusste schon Karl Marx, und in diesem Punkt hatte er recht.