Im Trüben fischen

ALLES FLIESST Norbert Scheuer angelt in seinem neuen Roman poetisch nach Familienerinnerungen – „Überm Rauschen“

„Wir sind nicht mehr als winzige Schaumblasen auf einer Welle“

Norbert Scheuer

VON EVA BEHRENDT

Das Fischen hat Leo Arimond bisher wenig bedeutet. Jedenfalls nicht annähernd so viel wie seinem älteren Bruder Hermann, dem Nerd mit dem „Fischtick“. Weil sich dieser Eigenbrödler von fast fünfzig Jahren seit Tagen mit Angelschnüren und stinkenden Ködern in sein Zimmer gesperrt hat und die Familie das Schlimmste befürchtet, ist Leo aus Hamburg zurück ins heimische Eifeldorf gereist und steht immer wieder flehend vor Hermanns verschlossener Tür. Viel öfter aber noch steigt er mit Angelzeug und Watstiefeln in den Fluss, der direkt am Gasthof der Eltern vorbeifließt, lauert Äschen, Forellen oder gar dem Urviech Ichthys auf, und erinnert sich – sozusagen im Trüben fischend – an seine Vergangenheit.

Der Fluss als Strom der Zeit, das Angeln als poetische Strategie, eine Erinnerung dingfest zu machen: Es sind schwere und auch schon ein wenig abgegriffene Metaphern, mit deren Hilfe dem Schriftsteller Norbert Scheuer in seinem jüngsten Roman „Überm Rauschen“ – pardon – gleich zwei großkalibrige Fische ins Netz gehen sollen. Zum einen setzt er seinen Ich-Erzähler Leo, bekannt schon aus seinen früheren Erzählungen, so auf die Fährte einer unglücklichen Familiengeschichte in der westdeutschen Provinz. Gleichzeitig entwickelt er in seiner Kontemplation übers Fischen eine Art Überlebenslehre: Wie das Angeln erfordert auch das Erinnern Geduld und Ruhe, List und Täuschung sowie die Fähigkeit zu entscheiden, ob die Beute getötet – oder nur bestaunt und dann wieder in den Fluss zurückgeworfen werden soll.

Was Leo aus dem Wasser hervorzieht, fügt sich bruchstückhaft zu einer schwierigen Jugend: Seine früh verwitwete, inzwischen demente Mutter, hat sich einst als Wirtin die Tresengäste ins Bett geholt, ihre Kinder von durchreisenden Affären empfangen und sie an einen zweiten Gatten delegiert, der den Ziehsöhnen das Fischen beibringt, Bakunin liest und trinkt, weil ihn seine Ehe zur Verzweiflung treibt. „Mutter konnte seit Valentins Tod niemanden mehr lieben, und wenn sie uns etwas beigebracht hat, dann, keinen zu lieben“, heißt es lakonisch.

Nicht nur im Bannkreis der Familie, auch in der strukturschwachen Eifel herrscht Tristesse. Der Gaststätte droht ständig Bankrott, „es gab keine Moral“. Die Kinder ziehen daraus „je eigenen Lehren“: Während Leo und die jüngeren Schwestern bürgerlichere Wege einschlagen, wird Hermann, auf den der Vater große Stücke setzt, immer wunderlicher, macht sich zum Gespött der Leute. Er bricht das Gymnasium ab, fährt zur See und übernimmt schließlich mit Kellnerin Alma den Gasthof. Die einsam besprochenen Kassetten, die er Leo schickt, hört der sich gar nicht mehr an.

Immer wieder macht Norbert Scheuer die Eifel zum Schauplatz seines literarischen Werks. In „Überm Rauschen“ setzt der studierte Physiker und Philosoph, der 1951 in Prüm zur Welt kam und heute mit seiner Familie in Kall lebt, der unwirtlichen Wirtshauswelt eine expressive und unheimliche Natur entgegen. „Wir öffneten abends das Fenster, und der Rauschen flutete in unser Zimmer, der Fluss schmeckte nach Pflaumen, reifen Äpfeln, roch nach schleimigen Kuhnasen, nach einem Sack ertränkter junger Katzen, nach Nebeln und Abenteuern, für die es keine Sprache gab, Dinge, die uns stumm machten wie Fische und glücklich, am Fluss zu leben.“ Zu Beginn des Romans gelingen Scheuer starke, expressive Passagen, und die Verschränkung von Flusslandschaft, Fischerphilosophie und Kleinbürgermühsal entfaltet spannungsvollen Reiz. Gerade die technische Seite des Angelns erweist sich als poetische Fundgrube, etwa wenn Scheuer die Konstruktion eines Köders als „schwere Goldkopfnymphe mit grünem Leib, mit viel Blei im Unterbau und einem Kopfkranz aus saugfähigem Fell“ beschreibt. Und die Fischporträts, die den schmalen Band gliedern, hat Sohn Erasmus zeichnerisch ausdrucksvoll ergänzt.

Doch im Verlauf der Erzählung häufen sich die Bilder vom „See verlorener Zeit“, vom „großen Strom aufgewühlter Erinnerungen“, vom „Grund des Flusses“, auf den „alles irgendwann sinkt“, vom Fluss als „Matrize, auf der sich alles unentzifferbar einritzt“, und vom Wunsch, „die Erinnerung aus dem unruhig glitzernden Wasser herauszufischen“, erbarmungslos aufeinander. Gern würde man diesem penetranten „ruhigen Fluss voller Zeit“ mal den Stöpsel rausziehen. Und die raunenden Angler-Binsen, die Scheuer abwechselnd dem Vater und Stammgast Zehner in den Mund legt, nerven nicht zuletzt deshalb, weil sie sich hemmungslos tautologisch gebärden: „Wir sind nicht mehr als winzige Schaumblasen auf einer Welle in einem flüchtigen Augenblick“, predigt da der Alte.

Solch erzählerischer Schaum droht auch die späten dramatischen Höhepunkte zu ersticken: die Verstrickung der Brüder in Scham, Schuld und eifersüchtiger Liebe zu Alma, die sich in einer blutigen Prügelei entlädt, ihre unterschiedlichen Erfahrungen von Todesnähe bei Unfällen im zugefrorenen Fluss und im Staubsilo eines Zementwerks.

Große Erleichterung, als am Schluss endlich der nackte Hermann aus seinem Kabuff geholt und in die Psychiatrie eingewiesen wird: Da hat man für die seelischen Nöte von Scheuers Helden kaum noch Interesse übrig. Warum auch, wenn offenbar alle Beteiligten ihr Heil in einer plätschernden Esoterik des „Alles fließt“ gefunden haben?

Norbert Scheuer: „Überm Rauschen“. Beck Verlag, München 2009. 167 Seiten, 17,90 Euro