Was wir nicht sehen

KOLONIALGESCHICHTE Eine Ausstellung über das Archiv „aussterbender Rassen“ des Künstlers, Abenteurers und Hobbyforschers Hans Lichtenecker droht in Basel zu versanden

Tonaufnahmen aus dem Berliner Phonogramm-Archiv, das ins geplante Humboldt-Forum ziehen soll

VON SUSANNE LEEB

Während die noch nicht existierende architektonische Hülle des geplanten Humboldt-Forums in Berlin wegen Verfahrensfehler im Architekturwettbewerb ihre ersten Risse bekam, ist die globale Toleranzrhetorik der ForumsplanerInnen, einen Ort für einen „gleichberechtigten Dialog zwischen den Kulturen“ schaffen zu wollen, von Kritiken noch relativ unberührt. Dabei lagern in den Archiven der Stiftung Preußischer Kulturbesitz Dokumente, die ihre Entstehung der deutschen Kolonialgeschichte verdanken – ein Umstand, der jede Dialogbehauptung unterminiert, sofern diese Geschichte nicht aufgearbeitet wird. Es handelt sich um Dokumente, die auf der Ausstellung „What we see“ zu hören waren. Sie ist, nach ihrer ersten Station in Kapstadt, Südafrika, vor wenigen Tagen in den Räumen der Basler Afrika Bibliographien zu Ende gegangenen. Doch obwohl es um die Folgen deutscher Kolonialgeschichte sowie um Rasseforschung im aufkommenden Nationalsozialismus geht, gibt es keine konkrete Aussicht, die Ausstellung in nächster Zukunft auch in Deutschland sehen zu können.

Die Ausstellung sowie das gleichnamige Katalogbuch mit einigen Essays erzählen von dem Künstler, Abenteurer und Hobbyforscher Hans Lichtenecker, der 1931 in Namibia ein Archiv „aussterbender Rassen“ anfertigen wollte, sowie von dem Widerstand und dem Protest, den die hierfür vermessenen und malträtierten Personen gegen ihre Behandlung artikulierten. Gesichts-, Hand- oder Fußabdrücke, die Lichtenecker nahm, angefertigte Masken, ein Tagebuch, ein Fotoalbum, anthropometrische Messdaten und Haarproben lagern im Namibischen Nationalmuseum in Windhoek sowie bei der dortigen Scientific Society, wohin sie Lichtenecker 1981 verkaufte. Gleichzeitig mitangefertigte Tonaufnahmen wiederum gehören dem Berliner Phonogramm-Archiv, das als Teil des Ethnologischen Museum ins geplante Humboldt-Forum ziehen soll.

Die Kulturwissenschaftlerin Anette Hoffmann, Kuratorin der Ausstellung und Herausgeberin des gleichnamigen Buches, ist zufällig auf die Tonaufnahmen im Berliner Phonogramm-Archiv gestoßen: auf Wachswalzen, die seit 1990, dem Zeitpunkt ihrer Rückgabe aus dem damaligen Leningrad, wohin sie als Kriegsbeute gelangt waren, aus Personalmangel unangetastet in den Archivräumen lagerten. 2007 wurden die Walzen digitalisiert und Hoffmann konnte sie erstmalig übersetzen lassen. Dank geduldiger Transkriptions- und Übersetzungsarbeit wurden nach nun fast 80 Jahren Stimmen wieder vernehmbar, die 1931 mittels eines Phonographen auf Walzen eingeritzt worden sind.

Die Aufnahmen sind ein seltenes Dokument – nicht nur weil Stimmen von 1931 und Sprachen wie Otjiherero, Khoekhoegowab oder Afrikaans in altertümlichem Dialekt zu hören sind. Vielmehr macht ihre Besonderheit aus, dass es sich die Personen, die in den Trichter der Aufnahmevorrichtung sprachen, nicht nehmen ließen, Botschaften an Deutschland zu formulieren, sich über ihre entwürdigende Behandlung zu beschweren, noch ausstehende Löhne von den Deutschen einzufordern, von ihren desolaten Lebensbedingungen zu berichten oder auch einfach nur Gott zu danken, dass sie noch am Leben sind. „Was soll ich sagen. Es gibt fast nichts zu sagen. Die Umstände dieser Zeit sind so schwierig für mich. Die Kraft, Gott um Hilfe zu bitten, ist der einzige Trost für all diese Probleme, die wir bislang erdulden. […]“ So Friedrich Goliath auf Wachswalze 42. Dass solche Dokumente überhaupt zustande kamen, ist dem Umstand geschuldet, dass Lichtenecker nur an den Stimmen, aber nicht an den Inhalten interessiert war, und anders als seine lokalen, deutschnamibischen Helfer die Sprachen auch nicht verstand.

Trotz der relativen Freiheiten, die sich die Personen nahmen, bleibt Lichteneckers Archiv und sein gesamtes Forschungsvorhaben von der Gewalt der Kolonialismus geprägt, auch wenn er das Archiv erst nach Ende der deutschen Kolonialzeit in Südwestafrika erstellte. Seine Geschichte ist, wie das Archivvorhaben selbst, unmittelbar mit der Geschichte des Kolonialismus, der „Rettungsanthropologie“ und des Nationalsozialismus verknüpft. Im Ersten Weltkrieg hatte Lichtenecker als Soldat der deutschen kolonialen Truppe gekämpft. Seine „Abgüsse von lebenden Menschen“ fanden wiederum 1934 – Lichtenecker war während des Nationalsozialismus Rassewart in Gotha – in der Deutschen Kolonialausstellung in Köln propagandistische Verwendung. Und als er 1931 im Selbstauftrag mit dem Plan für jenes Archiv nach Namibia zurückkam, hatte er diverse Wunschzettel im Gepäck. Zum einen den des Rassehygienikers Eugen Fischer, der ihn um neue Fotografien von der Bevölkerungsgruppe der Rehobother Basters bat, die Fischer 1908 während eines Aufenthaltes in Deutsch-Südwest fotografisch dokumentiert hatte. Zum anderen auch den des damaligen Leiters des Phonogramm-Archivs Erich von Hornborstel, der, 1933 als „Halbjude“ klassifiziert, aus Deutschland emigrierte. Er bat Lichtenecker um Tonaufnahmen von Buschleuten zur Vervollständigung des Archivs.

Ohne direkt physische Gewalt anwenden zu müssen, konnte sich Lichtenecker der Einschüchterungsmechanismen der auf Rassentrennung basierenden südafrikanischen Kolonialverwaltung sowie der Erinnerungen an die deutsche Kolonialzeit und den genozidalen Krieg der Deutschen gegen die Nama und Herero von 1904–1908 bedienen, um seine „Freiwilligen“ zu rekrutieren. Wie Anette Hoffmann in der Einleitung schreibt, lebten die AfrikanerInnen in Südnamibia damals unter Bedingungen erzwungener Ansiedlung, restriktiver ethnischer Segregation in sogenannten Homelands, Entwurzelung und dem Verbot von „Vagabundiererei“ sowie Ausweisgesetzen, die es erlaubten, jede Bewegung einer Person zu kontrollierten. Lichtenecker war es daher möglich, problemlos die Leute von ihren Dörfern in die Polizeistation von Keetmanshoop zu bringen, wo er sie, teils mit „leichtem Druck“, den Aufnahme- und Abgussprozeduren unterzog. Gewalt nahm er bewusst in Kauf: Dass Frauen für Abgüsse ihre Kopfbedeckung abnehmen mussten, sei für sie schlimmer, als nackt fotografiert zu werden; das sähe man ihrem Gesichtsabdruck auch an, schreibt der Forscher in sein Tagebuch.

Um solche Akte der Gewalt nicht zu wiederholen, hat Anette Hoffmann, die einige Jahre in Kapstadt lebte, bestimmte editorische und kuratorische Entscheidungen getroffen: Die Masken werden nur in Form von Lichteneckers Fotografien, die den Entstehungskontext und die Aufnahmeumstände dokumentieren, gezeigt. Auch konnte Hoffmann Nachfahren der stimmlich und physiognomisch Verewigten auffinden und sie führte mit ihnen für die Ausstellung Gespräche. Diese, sowie die Einladung an KünstlerInnen aus Namibia und Südafrika, Arbeiten für die Ausstellung zu produzieren, folgen dem Prinzip des „Versioning“, der Multiplizierung von Stimmen, um die Deutungshoheit über ein solches Projekt nicht nur den damaligen Gewaltverhältnissen zu überlassen. Was, von wem, in welcher Form mit welchen Widersprüchen gezeigt werden kann, ist insofern implizites Thema der Ausstellung.

Anette Hoffmann hat eine Reihe von Institutionen in Deutschland, historische, ethnologische und Kunst-Museen wegen einer Übernahme angefragt. Bislang wurden ihr aber nur Absagen erteilt, meist mit der Begründung eines Umzugs oder Umbaus, oder die Anfragen blieben unbeantwortet. Dabei wäre eine Übernahme, da die Ausstellung bereits komplett produziert ist, noch nicht einmal besonders kostspielig; und selbst der Transport von Kapstadt nach Basel ist bereits bezahlt. Den Grund der Absagen vermutet Hoffmann unter anderem in einer diffusen Befürchtung seitens der Institutionen, dass das Zeigen der Ausstellung Restitutionsforderungen bezüglich menschlicher Überreste, aber auch allgemeinen Reparationsforderungen Nachdruck verleihen könnte. Da die Ausstellung aber gar keine menschlichen Überreste zeigt (wobei durchaus strittig ist, ob Stimmaufnahmen dazu zählen), stellt sie die grundsätzlichere Frage nach der Praxis ethnologischer Museen hierzulande, die deutsche Kolonialgeschichte eher verschweigen als thematisieren.

Provenienzforschung ist in ethnologischen Museen eine heikle Angelegenheit; nicht nur aufgrund der diffusen Erwerbsumstände im Zuge des Kolonialismus zwischen Raub, Kauf und Schenkung, sondern auch weil solche Forschungen in Rückgabeforderungen münden könnten. Solche Themen sind bei den PlanerInnen des Humboldt-Forums bislang tabu, wie die Ideenschau „Anders zur Welt kommen“ im Alten Museum zeigt, die auf die Tugend der Forscherneugierde und auf die Lust des Sammlers setzt. Die Entstehungsumstände des Lichtenecker-Archivs sowie der heute erst wieder hörbare Protest der aufgenommenen Personen sind indess Appell genug, dass auch ethnologische Museen (und nicht nur die wissenschaftliche Forschung, was längst geschehen ist) in weitaus stärkerem Maße die von den Postcolonial Studies aufgeworfenen Debatten in ihre Praxis integrieren. Dies gilt vor allem, wenn sie sich, wie im Fall des Humboldt-Forums, einen globalen und gleichberechtigten Dialog auf die Fahnen schreiben. Das hieße in allererster Linie und zunächst, gewaltsame Sammlungsgeschichten zu thematisieren und einige Konsequenzen zu ziehen – und wenn dies neben Urheberrechtsklärungen auch in einzelnen Fällen „Rückgabe“ heißt. Womöglich ginge es aber auch erst einmal darum, deutsche Kolonialgeschichte und damalige Verbrechen in den Rang eines allgemeinen Bewusstseins zu heben.

Einen kleinen Lichtblick gibt es. Während eine Mitarbeiterin der deutschen Botschaft in Windhoek verlautbaren ließ, dass die Ausstellung ekelhaft sei, hat nun die namibische Botschaft Interesse bekundet, zu helfen, die Ausstellung doch noch nach Deutschland zu bringen. Nur wohin, weiß bislang niemand.

■ Susanne Leeb ist Kunsthistorikerin und Mitglied der Gruppe Alexandertechnik (www.humboldtforum.info)