Wer ist je mit sich selbst identisch

NACHRUF Dogmen waren ihm fremd: Gert Mattenklott vereinte in seinen Forschungen wie in seinem Leben vieles, was anderen unvereinbar erscheint. Am Samstag ist der Literaturwissenschaftler gestorben

In den 70er-Jahren mochte sich Mattenklott als Marxist verstehen, doch die Ästhetik, die Formen standen im Vordergrund

Gert Mattenklotts Laufbahn ist untrennbar mit dem Peter-Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften verbunden. In den 60er-Jahren studierte er selbst an dem Berliner Institut, das Peter Szondi in bewusster Abgrenzung zu einer Germanistik gegründet hatte, die nationalphilologisch und theoriefern ausgerichtet war. 1994 trat Mattenklott die Nachfolge des Institutsleiters Eberhard Lämmert an.

In Mattenklotts Erinnerung wollte das Peter-Szondi-Institut vom rigeur des Jahres 1968 nichts wissen. „Es gab hier“, schrieb er im Rückblick, „keine Ausgrenzung: weder politisch noch wissenschaftstheoretisch“. Und weiter: „Entsprechend geräuschvoll ging es zu in einem bewusst geförderten Nebeneinander von hermeneutischen Historikern und Marxisten, Psychoanalytikern und Dekonstruktivisten.“

Dass vieles, manchmal auch schwer zu Vereinbarendes nebeneinander existieren konnte, war prägend für Gert Mattenklotts Vita. In Marburg, wo er 1972 seine erste Professur antrat, verweigerte er sich linker Dogmatik unter anderem, indem er auf dem Ästhetischen und dessen Vermittlung beharrte und sich dennoch als Marxist verstand. „Form, das ist die Distanz, die einer zu sich selber hat“, notierte er in einer Würdigung Peter Szondis. „In den Formen, nicht nur den poetischen, erscheint das Leben in seiner Möglichkeit. Darin wird es tiefer erfasst als in der jeweiligen Wirklichkeit, die immer einschränkt.“

Von Einschränkungen hielt Gert Mattenklott nichts. Seine Interessengebiete waren so vielgestaltig wie seine Arbeitsfelder. Immer wieder befasste er sich mit den Schriften deutsch-jüdischer Gelehrter, gab Briefe etwa von Gershom Scholem oder Franz Rosenzweig heraus. Für den Kunsthistoriker Aby Warburg interessierte er sich, lange bevor dessen Theorien zur Widerkehr der Formen von Kuratoren aufgegriffen werden sollten. In einem Seminar Mattenklotts hörte ich Mitte der 90er-Jahre zum ersten Mal den Begriff „Hypertext“, in einem anderen lernte ich, allzu modischen Begriffen wie „filmischem Schreiben“ mit Skepsis zu begegnen, bei der Lektüre seiner Dissertation über die Melancholie in der Dramatik des Sturm und Drang verstand ich etwas von der Erstarrung, die die Rebellen und Revoltierenden des späten 18. Jahrhundert gerade in ihrem Aufruhr befiel – eine Erstarrung, die den Rebellionen von 1968 möglicherweise gar nicht fremd war.

Mattenklott vereinte in einem Leben vieles, was für andere unvereinbar gewesen wäre: An seiner bürgerlichen Ehe hielt er fest, ohne sein homoerotisches Begehren zu unterdrücken. Er machte eine akademische Ausnahmekarriere, agierte mit universitätspolitischem Geschick, verstand es, über die Samuel-Fischer-Gastprofessur Schriftsteller in den akademischen Betrieb einzubinden; zugleich schrieb er für Zeitungen und Zeitschriften wie Merkur, NZZ und FAZ, gelegentlich auch für die taz, wo er einen Film von James Ivory rezensierte oder sich mit Karl Corinos Vorwürfen gegen den Schriftsteller Stephan Hermlin befasste – Corino kritisierte Hermlin, weil der sich dem DDR-Regime angedient habe. „Wer war denn mit sich selbst je identisch“, fragte Mattenklott in seinem Kommentar.

Am Samstag ist Gert Mattenklott im Alter von 67 Jahren in Berlin gestorben. CRISTINA NORD