Ohne Muster in der Kunst des Schrumpfens

BLIND BERGAB Die SPD hat mehr als nur eine Wahl verloren. Doch aus dem Abstieg zu lernen scheint der Sozialdemokratie noch fern

VON STEFAN REINECKE

Die Volksparteien sind, wie man seit gut zwanzig Jahren weiß, in der Krise. Die Fliehkräfte der Individualisierung setzen ihnen zu, die Bindekräfte der proletarischen oder kirchlichen Milieus schwinden. Allerdings ist die Krise ein dehnbarer Begriff. Auch die Gewerkschaften und das Regietheater, Tageszeitungen und der Nationalstaat befinden sich in der Krise. Die Krise ist gewissermaßen der Normalzustand von Institutionen und Organisationen in dynamischen, auf stetige Veränderung gepolten Gesellschaften. Der Krisenbefund war für die SPD insofern nicht weiter dramatisch. Bis jetzt. Denn nun stellt sich die ungemütliche Frage: Was kommt eigentlich nach der Krise?

Es spricht viel dafür, dass das Wahlfiasko der SPD nicht mehr Teil des zyklischen Auf und Ab, des Wechselspiels von Erschöpfung in der Regierung und Erneuerung in der Opposition ist. Die SPD verliert seit Jahrzehnten stetig Mitglieder. Vor zwanzig Jahren gab es noch knapp eine Million Genossen, vor eineinhalb Jahren 533.000, heute noch 513.000. Vor ein paar Jahren hat die Partei in ihrer Not eine „Schnuppermitgliedschaft“ für 2,50 Euro Monatsbeitrag und Rederecht im Ortsverein eingeführt, ohne Erfolg. Die Partei ist überaltert. Ihre Machtbasis in Kommunen und Ländern, auf die sie in der Geschichte der Bundesrepublik gerade in üblen Zeiten stets bauen konnte, ist zerbröckelt. Schröders Agenda-Politik hat gerade Aktive entmutigt, die sich vor Ort um Alltagsdinge kümmerten und die, egal was kam, das Rückgrat der Partei waren.

Vertraute Rituale

Auf der offiziellen Bühne sieht alles noch vertraut aus. Die SPD tut, was Parteien nach Niederlagen immer tun. Ein Schuldiger, Franz Müntefering, wird gefunden, die Flügel absolvieren die üblichen Machtkämpfe. Ein neuer Chef, Sigmar Gabriel, wird auserkoren, der die Partei seltsamerweise genauso wenig leiden kann wie die ihn. Es sieht aus wie immer, aber wie auf einer verwackelten Fotografie. Dass etwas anders ist, hat drastisch fühlbar der Wahlabend gezeigt. Dort ließ sich Frank-Walter Steinmeier in der Parteizentrale feiern, als hätte er gerade einen furiosen Sieg errungen. Es war eine gespenstische Szene, mit einem auf Dauerlächel-Modus gestellten Wahlverlierer und Parteiclaqueuren, die die Wirklichkeit selbst wegjubeln wollten.

Die Realität ist: Die SPD ist auf dem Wählermarkt nur noch in einer Hinsicht eine Volkspartei. Sie wird relativ gleichmäßig von Hartz-IV-Empfängern und aufstiegsorientierter Mittelschicht, von Rentnern und jungen Kreativen gewählt. Das unterscheidet sie von FDP, Grünen und Linkspartei. Die unschöne Wahrheit ist, dass genau dies ihr Malus ist. Die Interessen und Lebensstile dieser Gruppen lassen sich, in einer sozial auseinanderstrebenden Gesellschaft, schwerer als früher austarieren. Vielleicht ist es kein Zufall, dass sich der Niedergang der Kaufhäuser, die alles unter einem Dach versprachen, und der Boom der Shopping Mall zeitgleich mit dem Abstieg der SPD und dem Aufstieg der Klientelparteien vollzieht.

Die Sozialdemokratie ist dabei, sich von einer Volkspartei in etwas anders zu verwandeln. Ihre Schrumpfung ist so wenig umkehrbar wie die der Karstadt-Filialen. Sie wird allerdings nicht vom Erdboden verschwinden oder von der Konkurrenz aufgesogen. Dagegen spricht die schlichte Beharrungskraft des Apparats und mehr noch, dass die Sozialdemokratie als eine Art kollektiver Traditions- und Sinnspeicher funktioniert. In diesem Segment ist die SPD, im Marktvokabular gesprochen, konkurrenzlos. Sie wird aber dauerhaft mit weniger Mitgliedern, weniger Geld, Einfluss und Wählern auskommen müssen. Kann sie das? Wie reagiert eine politische Großorganisationen auf ihre eigene Schrumpfung? Erst mal beleidigt. Zu schrumpfen hat etwas zutiefst Kränkendes. Dies auch noch als unveränderbar zu akzeptieren, ist eine Überforderung. Daher neigen Großorganisationen dazu, ihren Niedergang so lange es geht zu ignorieren und ihn damit erst recht zu beschleunigen.

Schmollen und flüchten

Die Blaupause für das, was der SPD bevorsteht, sind die französischen Sozialisten (PS). Die PS reibt sich seit längerem in einem nicht endenden Machtkampf auf. Nach außen ist sie unfähig, aus ihrer neuen kleineren Rolle etwas zu machen. Anstatt die Zusammenarbeit mit der Konkurenz, mit Grünen, Kommunisten und der neuen Antikapitalistischen Partei zu forcieren, führt sie sich auf wie eine Großorganisation, die missgünstig die kleinere Konkurrenz beäugt.

Die SPD ist in einer ähnlichen Falle. Sie weigert sich, die Kunst des Schrumpfens zu lernen und beharrt starrsinnig auf ihrem Machtanspruch von gestern. Exemplarisch kann man dies in Thüringen beobachten. Dort hat sie die Chance, neugierig und wendig mit Linkspartei und Grünen eine neue Machtarchitektur zu erfinden, ausgeschlagen. Sie ist ins Vertraute geflohen, in die Koalition mit der CDU, die große zu nennen sich verbietet. Dabei braucht die SPD nichts dringender als Experimente mit Grünen, Linkspartei und der FDP, in denen sie ihre neue Rolle ausprobieren kann: nicht mehr als dominante Volkspartei, sondern als Organisator von Bündnissen.

Doch die SPD tut lieber so, als hätte sie eine schmerzliche, aber reparable Niederlage erlitten. Eine Volkspartei im Wartestand. Sie hat gelernt, dass es ja irgendwann immer wieder aufwärts ging und die Zukunft sich stets als Verlängerung der Vergangenheit entwerfen ließ. Das ist nun anders. Es geht bergab. Anstatt das Unvermeidliche in den Blick zu nehmen, stellt die Partei sich blind. Sie könnte die Treppe herunterschreiten. So wird sie sie herabstürzen.