CODENAME: KULTURELLE HEGEMONIE
: Das fehlende Sammlerstück

Später mehr

DIEDRICH DIEDERICHSEN

Was ist los in Deutschland? Vor allem: Warum ist allem Anschein nach nichts so richtig los? Niemand scheint es so recht zu wissen. Einig sind sich die professionellen Diagnostiker immerhin über drei Dinge: 1.) Die Lage ist neu. 2.) Das Wahlergebnis hat mit ihr zu tun. 3.) Man muss die Wahrheit darüber in Berlin suchen: Schaut mal wieder auf diese Stadt. So konnte Nils Minkmar am Wahltag in der FAS aus einem zwischen Alexander- und Winterfeldtplatz „versöhnten Land“ berichten. In der SZ brachte Gustav Seibt das Kunststück fertig, zwischen Grill Royal und Borchardts ein neuerdings F.D.P. wählendes Milieu aus „Galeristen, Filmproduzenten, Kuratoren und Meinungsmacher(n)“ auszumachen. Heinz Bude freute sich dann in der Zeit, dass die linke Kulturhegemonie nun endgültig niedergerungen sei.

Natürlich haben die arrivierten Galeristen immer schon wirtschaftsliberal gewählt und Investoren sowieso, den Rest dieses „Milieus“ wird man aber in einer Stadt, die zu ungefähr zwei Dritteln gegen Schwarz-Gelb gestimmt hat, lange suchen müssen. Er passt womöglich komplett in zwei Lokale. Es ist ein altes Luxusproblem der Machthaber in diesem Lande, dass die Künstler irgendwie immer noch links sind. Die Kulturhegemonie ist das eine Sammlerstück, das ihnen noch fehlt. Irgendjemand muss herbeischreiben, dass sie dieses Jahr nun unterm Weihnachtsbaum liegt.

Die Zeitschrift Lettre hat also ein Berlin-Heft gemacht, um all diejenigen, die das Land schwer dechiffrierbar fanden, mit Diagnose-Stoff zu versorgen. Da wäre erst einmal das Thema, das im Wahlkampf – wie wir heute wissen: dankenswerterweise – ausgespart blieb: Migration. Darüber können die Demokratien mit ihren Bürgern heute ebenso wenig sprechen wie früher über die Todesstrafe: Bei diesem Thema wird der Bürger zu Pack. Manchem Politiker fällt da nur eines ein: den Bürger überbieten. Der frühere Finanzsenator der Stadt stellt einen Zusammenhang zwischen Ethnizität und Intelligenz her und erntete nicht nur in tausenden von Onlinekommentaren Zustimmung. Auch die Volker Zastrows dieser Welt, von Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung bis Spiegel online, sprangen auf den Zug auf und packen ihre Das-muss-man-doch-endlich-mal-wieder-sagen-dürfen-Rhetorik aus und klammern sich in Opferpose an ihre vorzeigeverwahrlosten Neuköllner Libanesen, als hätte sie die linke Kulturhegemonie fest im Schwitzkasten einer antirassistischen Moral.

Dabei hätte ein anderes Interview und im Wahlkampf abwesendes Thema aus dieser Lettre-Nummer mehr Aufmerksamkeit verdient: die Frage, wie wir leben wollen. Boris Groys erklärt: „Es ist bedeutsam, dass das Modell des angenehmen Lebens realisiert werden kann.“ Er meint die Tatsache, dass man in Berlin billig, zivilisiert und einigermaßen kosmopolitisch leben kann. Die Bedingung dafür ist aber die Stagnation und die Anerkennung, dass das angenehme Leben einen Wert an sich darstellt. Die Boheme sollte gerade nicht produktiv werden: „Sobald eine Dynamik entsteht, ist alles weg. Solange alles stagniert, kann man gut leben.“ Diese kunst- und menschenfreundliche Stagnation kann man auch als Versöhntheit erleben: Es ist aber nicht die Versöhntheit über die Lager hinweg oder gar Zustimmung zum Geist der F.D.P. oder jenes tragikomischen Sarrazin, der eine Elite in die Stadt hineinbrüllen will und die Zustimmung des geifernden Kleinbürgertums erntet.

„Wir haben keine anderen Beispiele für eine realisierte Utopie“, resümiert Groys: „Ich wünsche mir, dass diese Utopie eine gewisse Dauer hat.“ Gefährdet ist sie von außen, von jenem Deutschland, von dem man nicht viel erfährt, wenn man Berlin beobachtet; allenfalls dann, wenn man hört, wie es sich freut, wenn jemand der Utopie an den Kragen will und ihr mit deutscher Disziplin den Garaus machen. Ihre blöde Hegemonie haben die Rechten dort längst erkämpft, wo seit Jahren gejubelt wird: „Endlich sind die deutschen Themen enttabuisiert! (?), als wäre die zuvor herrschende Weltoffenheit eine Art Terror gewesen“ (Groys). Es sind nur wenige Stadtviertel in Köln, Hamburg und weite Teile von Berlin, die noch nicht erobert sind, was unter dem Codenamen „Kulturelle Hegemonie“ geführt wird.

■ Der Autor lebt in Berlin und ist Professor in Wien