ZWISCHEN DEN RILLEN
Der Star als Hologramm

Erinnert sich noch jemand an die TV-Talentsuchsendung „Star Search“? Da trat im Sommer 2003 ein 13-jähriges Kerlchen mit schwarz gefärbten Haaren auf, zappelte herum und sang „It’s Raining Men“, lächelte ein umwerfendes Lächeln und sagte: „Ich find’s total schön, aufzufallen.“ Worauf Jury-Mitglied Jasmin Wagner aka Blümchen sich begeisterte: „Du ersparst einer Plattenfirma viel Arbeit.“

Das hat die Plattenfirma Universal zwei Jahre später auch so gesehen. Aus dem Kerlchen wurde flugs eine Popikone, die bis dato mit ihrer Band Tokio Hotel über sechs Millionen Platten verkauft und es mit 19 Jahren zur jüngsten Wachsfigur bei Madame Tussaud’s gebracht hat. Niemand in Europa, Südamerika und den USA, der nicht die Kajalaugen-Trollfrisur-Kombination von Bill Kaulitz auf Anhieb erkennen würde. Vor einem Monat hat er mit seinem Zwillingsbruder und Gitarristen Tom seinen 20. Geburtstag gefeiert. Und jetzt ist „Humanoid“, das dritte Studioalbum von Tokio Hotel da. Es erscheint erstmals gleichzeitig auf allen bislang erschlossenen Märkten, wahlweise in Deutsch, in Englisch (die Französinnen und Israeli, die wegen Tokio Hotel die Deutschkurse der Goethe-Institute gestürmt haben, können mittlerweile auf die Lingua-franca-Version verzichten).

Es löst vor allen Dingen ein Gefühl aus: Traurigkeit. Musikalisch hat sich das Produzententeam augenscheinlich dazu entschieden, die vier Magdeburger in Altherren-Referenzen erwachsen werden zu lassen. Der naive Rockismus der Jungsband schimmert noch hier und da durch, darübergelegt wurde eine Schicht elektronischer Politur, die in den 90er-Jahren ein Zeichen von Reife für Bands wie U2 wurde. Synthies allenthalben, als Streicherflächengeneratoren genauso wie als ätherische Fiepsler und Basserzeuger, Einsatz von Stimmeffekten, viel E-Piano, die verbliebenen Gitarren im schauderhaftesten Crossover-Sinne glattproduziert. Das klingt dann neben U2 mal nach Gigi d’Agostino im Rammstein-Korsett, mal nach Münchner Freiheit noch eine Stufe klebriger und sehr häufig wie der Versuch, sich an die Depeche Mode der letzten 15 Jahre heranzuwanzen. In zwei Fällen wird der Rip-off noch nicht mal kaschiert: Der Song „Hunde“ emuliert New Orders „Blue Monday“, und mit „Menschen suchen Menschen“ haben die Produzenten eine schamfreie Depeche-Mode-Collage angefertigt – die Basslinie geklaut aus „Personal Jesus“, die Synthie-Melodie aus „It’s No Good“.

Das alles wäre aber weder allzu überraschend noch wirklich schlimm, würden nicht die Texte die Traurigkeit des ganzen Bombasts unproportional verstärken. Kaum ein Lied, das nicht Kälte, Einsamkeit und Entfremdung von der menschlichen Gemeinschaft besingt. Bill Kaulitz imaginiert sich als Mutant, als Alien und als Geisterfahrer. Passend zum Albumtitel „Humanoid“ ist Kaulitz’ Gesicht auf dem Cover abgebildet und sein Hinterkopf, aus dem ein Gewirr aus Cyborg-Schläuchen wuchert. Natürlich ist es nahe liegend, davon auszugehen, dass dieser tiefen Unbehaustheit eine wohlüberlegte Marketingstrategie zugrunde liegt – die kleinen Konsumentenmädchen sollen ja weiterhin Beschützerinneninstinkte entwickeln und sich gleichzeitig in ihrer pubertätsbedingten Entfremdung verstanden wissen. Aber wo bei Tokio Hotel die Gemachtheit aufhört und die Authentizität anfängt, war noch nie exakt zu bestimmen. Es stellt sich die Frage, ob ein professionelles Management einen 20-Jährigen so abrichten kann, Sachen zu singen wie „Die Träume verbrennen, die Liebe friert ein, wir schreien zusammen allein.“

Küchenpsychologisch geschulten Menschen verursachen Tokio Hotel im Jahr 2009 einen Kloß im Hals, der sich fast schon Michael-Jackson-mäßig anfühlt. Tragisch. Und der sich sicher nicht auflöst, wenn man liest, dass die Jungs in der vergangenen Woche, in der ihr Album von null auf die Eins schnellte, durch Saturn- und Mediamärkte getourt sind. Als Hologramme.

KIRSTEN RIESSELMANN

■ Tokio Hotel, „Humanoid“ (Universal)