In Abwehr erstarrt: Woyzeck

SCHAUSPIEL LEIPZIG Der Schauspieler Thomas Thieme inszeniert, der einstige Fußballstar Jimmy Hartwig spielt: ein Triptychon von Not, Revolte und Wut. Gemischte Gefühle einer Abrechnung mit der DDR

Zwischendurch denkt man, das fährt vor die Wand. Man versucht zu begreifen, scheitert am Fragmenthaften der Inszenierung. Am Ende aber wird ein „Woyzeck“ stehen, den es in solcher Sonderbarkeit kaum je gegeben hat.

Der Schauspieler Thomas Thieme inszenierte „Büchner/Leipzig/Revolte“ für das Centraltheater, ein Triptychon, in dem er Formen des einstigen und aktuellen Widerstands hinterherspürt. Morgen wird Thieme in „Der Mann aus der Pfalz“ als Helmut Kohl im ZDF zu sehen sein – mit einem Schwerpunkt des Films auf Kohls Wendepolitik (Siehe sonntaz vom 17. Oktober). Und biografisch schließt sich für Thieme damit auch ein Kreis, ist er doch einer, der die DDR „legal“ verlassen hat und im Westen eine große Schauspielerkarriere entwickeln konnte.

Widerstand als Event

In Leipzig gedachte man am 9. Oktober des 20. Jahrestags der Friedlichen Revolution vor zwanzig Jahren – in einem Festakt, bei dem Tausende um den Ring liefen, mit Bockwurst und Bier bewaffnet. Was bleibt also vom Widerstand, wenn er zum Event stilisiert wird? Was ist noch übrig von dem Geist, der damals brodelte? Thieme beauftragte zunächst den Filmemacher Nikolai Eberth, das Protestpotenzial des heutigen Leipzig zu erspüren. Herausgekommen ist ein Video, das, vorfilmgleich auf eine Leinwand projiziert, von einem jungen Paar erzählt. Sie kaufen Waffen, üben schießen am Waldrand. Nur Gewalt schafft Veränderung, denken sie, doch am Ende hat ihre Radikalität zur privaten Entfremdung geführt: „Du bist schwarz innendrin“, sagt das Mädchen zu ihrem Freund. Die Revolte scheitert in der Zerstörung der zwischenmenschlichen Beziehungen. Damit wagt der Film nicht viel – aber er bringt das Wenige auf den Punkt.

Was nun kommt, ist streitbar, kann aber als kleines Intermezzo abgetan werden: Dreißig Männer im Rentenalter positionieren sich vor den vom Bühnenhimmel herabhängenden Goldgirlanden. Emotionslos und gleichzeitig ergriffen – wie beim ordentlichen Fahnenappell – singen sie DDR-Arbeiterlieder. „Brüder, zur Sonne“, „Der kleine Trompeter“, und die Nationalhymne ist auch dabei. Der ein oder andere im Saal wird wohl stumm mitsingen, die Melodien wird man eben nicht los. Die Irritation und Unruhe, die beim Publikum aufkommt, spricht Bände: Worüber wir uns einst definiert haben, berührt uns jetzt peinlich oder geht schlicht auf die Nerven. Ein spannender Ansatz, hier an die Grenzen des Ertragbaren zu gehen, im Ganzen bleibt die Chorszenerie aber zu statisch.

Dann beginnt das eigentliche Theaterstück: „Woyzeck“, nur knappe 45 Minuten lang. Die Hauptrolle spielt Jimmy Hartwig, einstiger Fußballstar und Anfang der 90er-Jahre als Trainer beim FC Sachsen tätig – noch so eine verblüffende Koinzidenz an diesem Abend. Hartwig hat unter Thiemes Regie schon zwei Mal gespielt, in Weimar im „Baal“ und später in „Margaretha. Eddy. Dirty Rich“. Er ist kein ausgebildeter Schauspieler – in diesem Fall ist das aber das Beste, was der Inszenierung passieren konnte. Hartwig ist Hesse, das ist sein entscheidender Vorteil: Das Schönsprechen der Profis hat schon so manchen an Woyzeck scheitern lassen.

Ein weiches Seelchen

Hartwigs Woyzeck hingegen presst jeden Satz in breitestem Hessisch hervor, unfähig, ihm eine Gestalt zu geben. Mit Unterwäsche bekleidet, in unbeholfener Haltung, steht er vorn an der Bühne und wird sich von hier bis zum Ende nicht fortbewegen. Weil ein so weiches Seelchen in ihm wohnt, hat Woyzeck den massiven Leib auf Abwehr geschaltet – bis zur körperlichen Erstarrung.

Um ihn herum laviert sich die DDR, verkörpert durch Thomas Lawinky und Hagen Oechel, die fortwährend durch die Girlanden hindurchschlendern und Woyzeck verbal malträtieren. Seine unbändige Wut, die unter der Restriktion erstarrt, schafft mehr DDR-Geschichte, als es jedes Arbeiterlied vermag. Die reduzierte Regie, die auf ein Minimum gestrichenen Passagen der Nebenfiguren, machen es deutlich: Woyzeck befindet sich in der Revolte, weil er da ist und nicht anders kann. Weil es ihm seine bloße Existenz nicht ermöglicht, einen anderen Weg zu wählen.

Monieren könnte man, dass die Täter-Opfer-Frage, die sich stets um dieses Drama strickt, kaum vorkommt. Monieren könnte man auch die ewig diskutierte Rolle der Marie, die hier nur lüstern ist – da gab es schon emanzipiertere Darstellungen. Doch all diese Einwände sind belanglos angesichts der Drastik, mit der Hartwig Woyzeck spielt. Am Ende hat er Marie getötet, das Blut an seinen Händen verrät ihn. Und er ruft ins Publikum: „Guckt euch doch selbst an!“ JOHANNA LEMKE