Nicht genau hingehört

EINSEITIG Die Ausstellung „Die Sprachen des Futurismus“ im Martin-Gropius-Bau

VON KITO NEDO

Deutlichkeit, so schrieb Walter Benjamin im Nachwort zu seinem 1936 veröffentlichten Essay „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ sei ein Vorzug der Manifeste der Futuristischen Bewegung. Schon im Gründungsdokument, das der italienische Dichter und Jurist Filippo Tommaso Marinetti (1876–1944) am 20. Februar 1909 auf der Titelseite der Pariser Tageszeitung Le Figaro veröffentlichen ließ, hieß es unter Punkt neun: „Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt –, den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes.“

Auch wenn die pathetischen Tiraden des Dandy-Bellizisten Marinetti heute oft nur noch als genialer PR-Schachzug zur Etablierung einer neuen Kunstrichtung beschrieben werden, für Benjamin hatten sie eine tiefere Bedeutung: Im Futurismus wird die Selbstentfremdung der Menschheit offenbar, die einen Grad erreicht habe, „der sie ihre eigene Vernichtung als ästhetischen Genuß ersten Ranges erleben läßt“. Die Avantgarde wird faschistisch, eine „Ästhetisierung der Politik“ findet statt.

Die Liebe zum Krieg, der Hass auf die Frauen, die Vergötzung der Maschine, glühender Nationalismus oder die Einheit mit den Faschisten – als Besucher der Futurismus-Jubiläums-Ausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau ist man also sowohl auf das Ärgste vorbereitet als auch neugierig, wie die italienische Ausstellungskuratorin Gabriella Belli mit dem faschistisch-futuristischen Faszinosum umgeht. Belli ist Direktorin des angesehenen Mart, des Museums für moderne und zeitgenössische Kunst in Rovereto, zu deren Sammlungsbeständen rund 4.000 futuristische Kunstwerke und zahlreiche Dokumente gehören. Ihr vorab erklärtes Ziel war es, den Bruch der italienischen Kunstbewegung mit den der Antike verhafteten ästhetischen Regeln und Vorstellungen zu zeigen und die Entwicklung hin zu Bildern, Tönen und Formen, die es endlich mit der Beschleunigung des Daseins in der Moderne aufnahmen. Zudem sollte nicht nur die „klassische Phase“ des Futurismus beleuchtet werden, die mit dem Tod des Malers, Bildhauers und unbestrittenem Anführer der Gruppe, Umberto Boccioni, im August 1916 endete, sondern auch eine zweite Blütezeit, die sich bis in die Mitte der 1940er-Jahre zieht. Diesen kunsthistorischen Ansprüchen wird die Schau gerecht.

Feier Geschwindigkeit

Saal für Saal findet sich die mediale Breite der futuristischen Produktion zwischen 1909 und 1944 abgehandelt: In Vitrinen liegen schön gestaltete literarische Publikationen wie die Ausgaben von „Poesia“, dem Sprachrohr der Bewegung, an den Wänden hängen gegenständliche und abstrakte Malereien, die die Stadt, kaltes elektrisches Licht, die Geschwindigkeit von Automobilen oder auch den modernen, fragmentierten Blick auf den menschlichen Körper feiern, auf Sockeln werden Kleinskulpturen von Garardo Dottori aus Schlüsseln, Schrauben und Metallresten präsentiert und auch die berühmten „Geräuschtöner“ von Luigi Russolo, die fraglos zu den spektakulärsten Hervorbringungen der Bewegung gehörten.

Dennoch wird man das Gefühl nicht los, dass etwas Entscheidendes fehlt. Was gewaltig stört, ist die Ausblendung der Verbindung der Futuristen mit dem italienischen Faschismus. Spätestens am unheimlichen Ausstellungsstück „Unendliches Profil“ (1933) von Renato Bertelli, dass den seitlich angeschnittene Duce-Schädel in eine dreidimensionale 360-Grad-Rotation versetzt und ihm so den Nimbus einer fortwährend rotierenden Herrschaftsmaschine verlieh, wird das große Defizit überdeutlich. Denn dass es sich um den Führer selbst und ein von ihm für gut befundenes, offizielles Porträt handelt, wird den Besuchern einfach verschwiegen. Warum? Hier liegt der Kern des Unbehagens: Weil die politische Dimension des Futurismus, seine Verwobenheit in den gesellschaftlichen und historischen Kontext unterdrückt wird, ist die Ausstellung ihrer dringend notwendigen aufklärerischen Dimension beraubt.

Deshalb bleiben die liebevoll installierten Exponate, wie etwa auch die Rekonstruktion eines riesigen Wundergartens und den dazugehörigen Phantasiekostümen, die der Maler Fortunato Depero 1917 für ein Strawinsky-Stück entwarf unverbunden, unvermittelt und stumm.

Die Futuristen als quietschbunte Theatertruppe? Da war Benjamin vor über siebzig Jahren mit seiner Analyse schon weiter.

■ „Sprachen des Futurismus – Literatur, Malerei, Skulptur, Musik, Theater, Fotografie“, im Martin-Gropius-Bau, Mi.–Mo. 10–20 Uhr, bis 11. Januar 2010