Traum vom Universalgenie

GYNÄKOLOGE UND KÜNSTLER Mit der Ausstellung „Carl Gustav Carus – Natur und Idee“ erinnert die Alte Nationalgalerie in Berlin an eine repräsentative Figur der deutschen Romantik

Natur, Kunst und Wissenschaft verstand Carus in einem inhärenten, geistigen Kräfteverhältnis

VON MARCUS WOELLER

Die Ausstellung „Carl Gustav Carus – Natur und Idee“ träumt den Traum vom Universalgenie und trauert über den Verlust des Einklangs von Wissenschaft und bildender Kunst. Denn der 1789 in Leipzig geborene, aber die meiste Zeit seines Lebens in Dresden beheimatete Carus war Arzt, Naturforscher und bildender Künstler – gleichzeitig und auf hohem Niveau. Er erweiterte die Geburtshilfe zum medizinischen Fach der Gynäkologie. Er schrieb und illustrierte anatomische und zoologische Standardwerke seiner Zeit. Er eiferte seinem Vorbild Caspar David Friedrich nach, traf sich mit Alexander von Humboldt, korrespondierte mit Goethe und wurde zu einem der wichtigsten Vertreter der deutschen Romantik. Nach der Gemäldegalerie in Dresden macht die Schau nun in der Alten Nationalgalerie in Berlin Station.

Hier müssen die Besucher und Besucherinnen erst einmal an vier Meisterwerken Friedrichs vorbei, um dann unwillkürlich eine Parallele zu ziehen. Dabei ging es Carus weder um Konkurrenz noch um Kopierwillen, sondern – ganz Wissenschaftler – um den analytischen Vergleich und den selbst vervollkommnenden Lerneffekt. Carus hatte als Jugendlicher zwar einen Lehrer für Mal- und Zeichenerziehung, den Maler Julius Athanasius Dietz, mit dem er zeitlebens befreundet blieb und mit dem er ausgedehnte Studienreisen unternahm, war aber eigentlich Autodidakt. Eine akademische künstlerische Ausbildung hatte er zugunsten der medizinischen Karriere bald aufgegeben, verstand sich aber als Künstler-Dilettant im positiven Sinne Goethes.

1818 nahm Carus Kontakt zu Friedrich auf und besuchte mit ihm die sächsische Schweiz. Dieser revanchierte sich mit der Empfehlung einer Reise an die norddeutsche Küste, an der er selbst zwar nicht teilnahm, die Carus aber nachhaltig darin bestätigte, sich neben der Medizin immer auch der Kunst zu widmen. Und so finden sich im Werk Carus’ bald Varianten der Klosterruine Eldena in der Nähe von Greifswald, die eigenständig seine Seherfahrung interpretieren, ohne Friedrichs „Abtei im Eichwald“ zu plagiieren. Carus’ romantische Weltsicht konkurriert in seinem Werk immer mit der Pflicht zur Analyse, mit dem Interesse an den Formen der Natur und ihren inneren Zusammenhängen. Wo Friedrich, wie in „Der Watzmann“, den Pathos des Naturerlebnisses im Angesicht des Gebirges, inszeniert, drängt bei Carus stets die Leidenschaft des Naturforschers für Gesteinsformationen, Gletscher oder geologische Besonderheiten in den Vordergrund.

Der englische Romantiker William Turner malte 1832 ein Bild von der schottischen Insel Staffa. Vor lauter Brandung und Gischt ist die Vulkaninsel selbst kaum zu erkennen, die Küste verliert sich in Nebel und Farbenspiel. Carl Gustav Carus reiste ein Jahrzehnt später nach Schottland und porträtierte die Hebrideninsel aus einem völlig anderen Blickwinkel. Die eigenartigen Basaltformationen, sechseckige Lavasäulen, die der Insel ihre charakteristische Erscheinung verleihen, für Turner aber keine Rolle spielten, gibt Carus idealisiert, aber mit der Präzision des Geognostikers wieder; die romantische Anlage des Landschaftsbilds ist noch erkennbar, tritt aber in den Hintergrund.

Carus’ Landschaften sind nicht nur künstlerische Beschäftigungen mit dem Naturerlebnis, sondern Ausdruck seiner bildnerischen und philosophischen Auseinandersetzung mit dem Wissensstand seiner Zeit. Dabei war er bei allem wissenschaftlichen Fortschritt, den er mit durchsetzte, noch kein Radikaler wie etwa der eine Generation jüngere Charles Darwin, sondern ein Versöhner, der stets „das Urbild alles Seienden in Gott“ suchte. Natur, Kunst und Wissenschaft verstand Carus in einem inhärenten, aber auch geistigen Kräfteverhältnis, das für die Malerei in seiner Wortschöpfung „Erdlebenbildkunst“ mündet. Dieser ganzheitliche Anspruch an seine Kunst wie auch die Art seiner Lebensführung – nämlich das Leben voll auszuschöpfen, wie der Kurator und Leiter der Alten Nationalgalerie Bernhard Maaz betont – macht Carus zu einer der wichtigsten Figuren für die Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts.

Die Ausstellung zeigt neben Carus’ Gemälden, Drucken und Zeichnungen auch Beispiele seines wissenschaftlichen Schaffens, seiner zahlreichen medizinischen Schriften. Leider isolieren sich Exponate wie Untersuchungsbestecke und ärztliche Lehrbücher, Schädelabgüsse und zootomische Grafiken in einem eigenen Kabinett und werden nicht direkt mit dem künstlerischen Oeuvre Carus’ in Beziehung gesetzt. Die tatsächlich ganzheitliche Einordnung des Universums von Carl Gustav Carus zwischen Natur und Idee muss der ambitionierte zweibändige Katalog übernehmen.

■ Bis 10. Januar, Alte Nationalgalerie, Berlin , Katalog (Dt. Kunstverlag) 29,90 €